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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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traten in gestreiften Schlafanzügen und dicken knöchellangen Übermänteln aus ihren Gärten, wenn Kaufner und sein Bergführer um ein Nachtlager baten. Immer wurde es ihnen mit großer Herzlichkeit gewährt, fast immer in einer anderen Sprache – es gab Dörfer, in denen bloß Usbeken, andere, in denen bloß Kasachen, Turkmenen, Tadschiken oder Türken lebten. Gemeinsam mit seinen Gästen nahm der Gastgeber das Abendbrot ein, auf dem Boden derselben Stube wurde anschließend genächtigt. In jeder dieser Wohn- und Schlafstuben gab es Plüschbären, wie sie Kaufner in Shahr-i Sabs gesehen hatte, einmal sogar deren fünfzehn, mit Herzen auf den Tatzen.
    Vor allem frühabends, wenn die Männer noch auf ihren Teebetten unter Bäumen lagerten, während die Frauen eimerweis Wasser in die Küche schleppten oder riesige Pfannen mit Plov auftrugen, lauerte überall die Idylle. Vor allem frühmorgens, wenn zunächst Esel und Hähne, dann Hunde, Kälber, Ziegen sich bemerkbar machten. Vor allem beim ersten Blick ins Tal, auf die Felder der Ebene, die schon zu einer anderen Welt gehörten. Vor allem später am Tag bei der Mühle am Bach, der Müller saß auf einem Holzpflock davor, drinnen drehte sich der Mahlstein mit einer gewissen Unwucht. Indem ihm Kaufner Runde um Runde zusah, geriet er in eine Art Trance, schließlich kam ihm dabei ganz sanft und beiläufig die Idee, daß auf ähnlich behäbig schlingernde Weise, wie hier das Mehl gemahlen wurde, gerade die Grenzen in Europa und Alaska geschrotet wurden. So qualvoll schleppend, daß es kaum einer wagte, den Weltkrieg offen als solchen zu bezeichnen, keiner jedenfalls, der noch Hoffnung hegte, er möge an seinem Land vorüberziehen. Vielleicht würde man ihn im nachhinein ja lediglich als Zweite Völkerwanderung bezeichnen, spätestens wenn sich auch die Chinesen in Bewegung gesetzt haben würden. Bislang hatten sie lediglich ihre Verbände an den Grenzen zusammengezogen, in den usbekischen Bergdörfern wußte man davon detailliert zu berichten. Wie fern Europa hier war, wie nah China! Nicht daran denken. Die letzten Jahre hast du jede Menge kleiner Geschäfte gemacht, hast überlebt, dich durchgemogelt. Nun machst du das Geschäft deines Lebens.
    Nur sah es nicht danach aus, als könne Kaufner mit dieser Landschaft so schnell ins Geschäft kommen. Die immergleichen Gebirgsrücken präsentierte sie ihm, eingekerbt in ihre Flanken die immergleichen Bachtäler mit ihren sumpfigen Gehölzen. Wo hätte Kaufner anhalten wollen, Witterung aufnehmen können, Verdacht schöpfen müssen? Noch im gottverlassensten Gebirgskaff ging es gleich gesittet zu, die Männer tranken, spielten um Geld, die Frauen arbeiteten auf den Feldern, molken das Vieh, kochten, buken, hielten die Familie zusammen. So war es gewiß immer gewesen, so würde es immer sein. Wo war sie, die
Faust Gottes
, wo waren die Gräber, die ihre Krieger verehrten? Es mußte ja weit mehr davon geben als das eine, das ihnen das allerheiligste war. Ob die Bergführer bewußt daran vorbeigingen?
    Auch was die kleinen Friedhöfe betraf, die immerhin da und dort am Hang oder in einer Senke zu sehen waren, kam Kaufner nicht voran. Er mochte die Bauern fragen, soviel er wollte, nie wurde er schlau aus der Art, wie sie ihre Toten bestatteten, es schien von Tal zu Tal, von Dorf zu Dorf zu variieren. Im einen bedeckte man die frischen Erdhügel mit quadratisch ausgestochenen Grassoden; im nächsten mit weißen Steinen; da wie dort manchmal zusätzlich mit Schüsseln, Tellern, Tassen; im übernächsten markierte man Kopf- und Fußende mit einer Art kleinem Hinkelstein; dann markierte man wieder überhaupt nichts. Ganz zu schweigen von den neumodischen Grabsteinen, die selbst hier Einzug gehalten, von den bunten Bildern der Verstorbenen, den Plastikblumen – jeder Friedhof hatte seine Eigenheiten, die Kaufner anfangs mit Interesse studierte. Bald ging er blicklos an ihnen allen vorbei, er hatte sich gegen sie entschieden.
    Das, was er suchte, mußte schon etwas bedeutender sein. Auch davon gab es genügend, überall in den Bergen stieß man auf Gräber gelehrter und frommer Männer, auf heilige Bäume und Quellen, zu denen die Menschen pilgerten, um Gebete zu sprechen, den Grabbau zu umrunden, ein Tuch ins Geäst zu knüpfen, einen Schluck Wasser zu nehmen, das Gesicht zu benetzen, ein Schaf zu schlachten, es an Ort und Stelle zuzubereiten und zu verspeisen. Doch eigentlich versteckt lagen diese Heiligtümer nicht, niemand

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