Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
in die Kanne zurückgegossen werden; wurde dann getrunken, schimpften die Alten mit Vorliebe auf die Jugend von heute. Seitdem der westliche Lebensstil Einzug gehalten, sei sie völlig verkommen, man schäme sich für sie. Immerhin, in den offiziellen Erklärungen der Regierung würden die Bekräftigungen der Allianz mit dem Westen vernehmbar leiser. Wenn nur die Russen bald wiederkämen!
Es wurde auch hier immer komplizierter. Wer wollte sich da Gedanken über einen geeigneten Bergführer machen. Als zum ersten Mal das Gas ausfiel, hatte Kaufner so ziemlich jeden gefragt oder vielmehr zu fragen versucht, den er kannte. Angefangen bei Sher, den er in seinem Büro vor zwei annähernd gleich hohen Stapeln an Geldscheinen überraschte. Achtung! Der eine sei für die Ausländerbehörde, der andere für die Polizei. Alles Spione. Halsabschneider. Verbrecher. Er war betrunken.
Vierfinger-Shamsi war ebenfalls betrunken und schwieg.
Shodeboy war nüchtern und schwieg.
Der Teppichhändler Abdullah redete viel, allerdings nur von der Qualität seiner Ware.
Die Brotverkäuferin Kutbija redete sogar Deutsch, hatte aber keine Zeit für Kaufner.
Lutfi hatte viel Zeit für Kaufner, rasierte ihn wie immer, fünffach, während im Fernsehen Musikvideos liefen, zwischendurch ein Video von der Westfront, angeblich wurde es schon seit Wochen gezeigt: Trier gefallen, Saarbrücken gefallen, Straßburg gefallen. Der Kalif stand am Rhein, tatsächlich. Am andern Ufer die türkische Armee, von Verbänden der Bundeswehr logistisch unterstützt. Der Kommentator sprach von der alten Siegfriedlinie, auf der sich die Türken rechtsrheinisch verschanzt hätten, sie heiße jetzt Atatürklinie. Erstaunlicherweise setze der Kalif nicht über, blase nicht zum Generalangriff. Ob er die Türken erst einmal in Kleinasien angreifen wollte?
Natürlich fragte Kaufner auch die Geldhändler auf dem Schwarzmarkt. Die Schaschlikbrater, Somsaköche, Marschrutkafahrer. Die Nußhändler auf dem Bazar. An manchen Nachmittagen ging er wieder in Begleitung von Shochi, selbst wenn sie ihm bei seiner Suche nach einem Bergführer keine große Hilfe mehr sein konnte.
»Manchmal träume ich so Sachen, Ali. Auch mit offnen Augen, weißt du? Und dann kann ich nicht einfach in meinem Zimmer bleiben und Hausaufgaben machen.«
Sie hatte geträumt, Vierfinger-Shamsi werde sterben. Dilshod. Firdavs. Der kleine Welpe sowieso, in einem Eimer Wasser. Einer ihrer Onkel, ein anderer ihrer Onkel, einer der Onkelsöhne … wer immer. Sogar ihr eigener Vater, stell dir vor, Ali, sogar der. Sie selbst werde ihn finden, in seinem eigenen Bett, erstochen von, von – Du wirst ihn ja bald kennenlernen, Ali! Zumindest in ihren Träumen war der Krieg schon ausgebrochen, und keineswegs auf eine Art, wie ihn ihr Bruder auf dem Bildschirm spielte. Sie erzählte so anhaltend detailliert vom Sterben, daß man sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet hätte. Doch seltsam, Mitleid wollte sie gar keines, wollte nur, daß ihr endlich einer zuhörte. Wahrscheinlich hatte sie keine einzige Träne mehr, die sie sich verstohlen aus dem Gesicht hätte wischen können.
Kaufner verstand, warum Shochi von ihren Träumen nicht erzählen durfte, am liebsten hätte auch er einen Bogen um sie gemacht. Er kannte all das, wovon sie bislang erst in ihren Alpträumen heimgesucht wurde. Kannte die verkohlt zusammengeklumpten Leiber, die sie ihm beschrieb, die geschändet zerfetzt verdreht am Straßenrand liegenden, die aufgedunsen in den Kanälen treibenden, nur war es für ihn Hamburger Alltag gewesen und er selbst war wie im Traum daran vorübergegangen. Bloß nicht stehenbleiben, nie stehenbleiben, wenn man weiterleben wollte, nicht hinsehen, nicht nachfragen, nur immer bis zur nächsten Ecke denken, diskret verschwinden. Wahrscheinlich würden Shochis Träume ganz von alleine aufhören, sobald der Schrecken endlich auch in Samarkand Einzug gehalten hatte, lange konnte es ja nicht mehr dauern. Aber das durfte ihr Kaufner natürlich nicht sagen.
Zumindest brachte sie ihm viele neue Vokabeln bei, teilweise unterhielten sie sich bereits in einem vielsprachigen Kauderwelsch. Wenn dann auch noch frischer Schnee gefallen war, sahen die Plattenbausiedlungen gar nicht mehr so trostlos aus.
An den Abenden ging Kaufner alleine. In Hotelbars, Tanz- und Tätschelstuben lernte er die Neuen Usbeken kennen, gegen die man in den Teehäusern wetterte. Manche der russischen Huren, die mit ihnen feierten, waren
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