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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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–, hatte Kaufner immerhin ein Hufeisen aus den Bergen mitbringen können. Damit war das Zauberensemble komplett, Shochi nagelte alles, was sie übern Sommer gesammelt, neben dem Hoftor an die Wand: das Büschel Steppenraute, die Peperonischoten, den Batzen Bienenwaben, das Hufeisen, den Gummischuh. Am Abend, da Kaufner auf seinen Balkon trat, um die Kuppel von Gur-Emir zu betrachten und den Schwarm weißer und schwarzer Tauben, der darum kreiste, war er ratloser als vor einem halben Jahr. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde die Kuppel blau angestrahlt, wie immer. Bald jedoch gab’s einen Knall, woraufhin die Kuppel im Dunkeln lag. Kein Schuß, nein, lediglich ein Kurzschluß, wie man dem Palaver in der Loggia entnehmen konnte. Vielleicht paßte das ganz gut zu Kaufner und wie er sich jetzt fühlte.
    Daß er auf der richtigen Spur war, bezweifelte er nicht. Daß er einen richtigen Führer brauchte, allerdings nicht minder. Einen, der mehr war als der lokale Bergfex vor Ort. Der mehr kannte, der alles kannte, was es an Gebirgen rund um Samarkand gab, und ein Gespür dafür entwickelte, was Kaufner darin suchte. Einen, der mit seinen geheimsten Plänen einverstanden war, ohne sie genau zu kennen. Einen, der zwar nicht konkret für den Westen arbeitete – davon würde es hier so schnell keinen zweiten geben, so viel hatte Kaufner verstanden –, aber eben auch nicht für eine der Gegenparteien. Einen klaren Auftrag hätte er ihm ja keineswegs erteilen können. Hätte ihm allenfalls ein paar Andeutungen machen dürfen: ins Unwegsame, gleichwohl Erhabene zu wollen, ins Entlegene, Abseitige, Unzugängliche, dorthin, wo einer wie er vielleicht gar nicht hindürfe. In Sperrgebiete. Zumindest in deren Nähe, falls der Führer Bedenken haben sollte. Auf daß Kaufner dort dann selber den rechten Ort erspüren konnte, den rechten Moment, wo er sich absetzen und den Rest alleine bewerkstelligen würde.
    Wenn er damals geahnt hätte, wie viele Täler und Gipfel verboten waren, weil die
Faust Gottes
dort ihre Ausbildungslager oder die Armee das Gebiet ebendeswegen abgeriegelt hatte. Doch das sollte er erst im nächsten Sommer begreifen. Wenn er damals geahnt hätte, daß er bereits am Tag ihrer Abreise, beim ersten Gespräch mit Odina, das er unter vier Augen mit ihm führte, ganz überraschend unverblümt seinen Auftrag erteilen würde, er hätte nicht den Winter über jeden mit verschwörerischer Miene nach einem Eseltreiber fragen müssen.
    »Führ mich zu den Gräbern«, hörte sich Kaufner zu seiner Verblüffung sagen – konnte man überhaupt eine klarere Ansage machen? Die jeder, aber auch wirklich jeder in diesem Land sofort auf seine Weise zu verstehen wußte?
    »Zu allen, Herr?«
    Ah, Odina, wie raffiniert er sich aus der Affäre gezogen und den Schein aufrechterhalten, ja, wie vorbildlich er dann auch die Monate, die sie zusammen verbracht, um das Wesentliche herumgeschwiegen hatte. Der Junge hatte ihn in Gebirge geführt, deren bloßer Anblick sogar ihm, langjährigem Paßgänger beim Edelweißbataillon in Mittenwald, alles abverlangt hatte. Weil man angesichts ihrer weglosen Wände, ihrer wütenden Wasser, ihrer wilden Grate sofort begriff: Dorthinein zu gehen bedeutete Schritt für Schritt, sterben zu lernen.
    Wahrscheinlich war es eine Fügung des Schicksals, daß Kaufner im Winter an Odina geraten; es hatte lange nicht danach ausgesehen. Nach wie vor waren sie in Samarkand am liebsten mit Geldzählen beschäftigt gewesen, kein Wunder bei dieser Währung, ansonsten auf der Hut vor Spitzeln und Denunzianten; mit einem Fremden unterhielten sie sich allenfalls übers Wetter. Wann wohl der erste Schnee fallen, wann zum ersten Mal die Stromversorgung zusammenbrechen würde?
    In der Regel kam Kaufner gar nicht dazu, seine eigene Frage zu stellen. Im Teehaus
Blaue Kuppeln
erfuhr er, daß die Spannungen zwischen Usbekistan und Tadschikistan im Verlauf des Sommers erheblich zugenommen hatten. Warum? Vielleicht der Ausbildungslager wegen, die beidseits der Grenze lägen, vielleicht der Verrückten wegen, die zunehmend auch in die Ebenen herabstiegen. Aber darüber werde in den Nachrichten nicht gesprochen, das gebe es offiziell gar nicht. Inzwischen habe Usbekistan die Bahnverbindungen zwischen den beiden Staaten blockiert und damit die Lieferung an Treibstoff, Lebensmitteln, Baumaterial, Maschinen. Seitdem werde Tadschikistan übern Pamir Highway versorgt … von China aus!
    Die ersten drei Tassen des grünen Tees mußten

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