Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Berghängen: »Für deine Heimat mußt du wie eine Fackel leben«, »Der Soldat ist die Blume unserer Gesellschaft« …
In den Städten war der Boden unter den Maulbeerbäumen übersät mit Früchten, auf den Gehsteigen bildeten die zertretnen Früchte ein schwarzviolettes Muster. Kaufner mußte stets zweimal hinsehen, bis er wirklich sicher war, daß es sich nur um den Saft von Beeren handelte. In den Dörfern lümmelten die Männer auf den Teebetten, die vor den Teehäusern samt einer Unzahl an Kissen bereitstanden, während ihre Frauen auf den Feldern arbeiteten. Es gab genug zu trinken, zu rauchen, alles war längst gesagt. Nun gut, der Krieg. Ob er auch hierher kommen würde?
Im Moment kam, von Kaufner abgesehen, niemand und nichts, es war auf immergleiche Weise trostlos oder pittoresk, je nachdem, wie man als Betrachter gestimmt war. In jedem Fall war es staubig; war gerade ein kurzer Sommerregen niedergegangen, würde es zwei, drei Stunden später wieder staubig sein. Das einzig Schöne waren, Kaufner gestand sich’s widerwillig ein, waren die Moscheen und Mausoleen, die er überall gezielt aufsuchte, sofern sie nicht verschlossen waren. Einmal rief ein kleiner Junge zum Gebet, indem er eine Nische im Eingangsportal hell und klar ansang, danach führte er Kaufner aufs Dach der Moschee, um ihm zu zeigen, wie wunderbar sein Heimatort aussah. Ein andermal wurde Kaufner vom Imam eingeladen, mit ihm eine Melone zu essen und über Gott zu diskutieren. Oh, er schätze den Disput mit Andersgläubigen! Ein Christ sei unter Moslems immer wohlgelitten! Wenn er gewußt hätte, wie die Russen mit dem Imam der Blauen Moschee disputiert hatten, als sie diese letzte türkische Bastion östlich der Alster endlich gestürmt hatten! Im Zeichen des Kreuzes gestürmt hatten! Und wenn er erst gewußt hätte, warum ihn Kaufner nun so scheinheilig lächelnd fragte, ob es im Umkreis seiner Moschee auch ein Heiligengrab gebe.
Aber natürlich! Fast immer gab es eines. Und darum herum erstaunlich oft Heilige, ausgezehrt vor sich hin brütende Gestalten, die zum Glück niemand groß beachtete, wenn sie plötzlich aufsprangen und Kaufner beschimpften. Böser Mann! Sofern sie Tadschikisch oder Usbekisch redeten, verstand er mittlerweile das meiste; er war froh, daß ihnen ansonsten kaum einer zuhörte. So zugedröhnt abgehoben und apathisch sie waren, nicht wenige von ihnen schienen das Unheil sehr genau zu wittern, das Kaufner im Schilde führte. Als ob er irgendetwas ausstrahlte, das ihn verriet. Die neugierigen Kinder, die ihm folgten, sobald er sich rund um die Grabbauten zu schaffen machte, konnte er verscheuchen. Gegen die Derwische gab es kein Mittel. Im Gegenteil,
sie
waren es, die
ihn
in die Flucht schlugen. Ja, wenn er in Begleitung von Shochi aufgetaucht wäre! Ob er seine Mission ohne Shochi überhaupt würde durchführen können? Aber das verbot sich doch von selbst. Shochi hatte eine vage Vorstellung von seiner Aufgabe, vielleicht war sie sogar auf merkwürdige Weise damit verknüpft. Allerdings wohl eher unfreiwillig, getrieben von Träumen, Ahnungen, Befürchtungen – auch sie spürte, was die Derwische spürten, nicht wahr? Zwar beschimpfte sie Kaufner nicht; daß sie darüber so inniglich schwieg, zeigte indes, daß sie keinesfalls auf seiner Seite stand. Oder gerade doch?
Kam er nach seinen Exkursionen abends ins
Atlas Guesthouse
zurück, mit vom Staub verkrusteten Nasenlöchern, hatte sich die Stadt kaum abgekühlt, viele waren mit ihren Betten auf die Dachterrassen gezogen oder auf die Straße. Nur Shochi war stets wach, rannte auf ihn zu, sowie sie ihn im Hof entdeckte, umarmte ihn mit der Inbrunst eines Kindes:
»Schön, daß du wieder da bist, Ali!«
Sie habe sich Sorgen gemacht. Nach Details fragte sie nie, vielleicht war sie auf ihre Weise ohnehin im Bilde, was er erlebt hatte.
Das
wiederum hütete
er
sich zu fragen. In dem tiefen Ernst, der ihrem Schweigen anhaftete, erschien sie ihm momentweis wie eine junge Frau. Als er ihr endlich einen Klumpen Bienenwaben mitbringen konnte, er hatte ihn unter den Glücksbringern am Innenspiegel einer Marschrutka entdeckt, da strahlte sie ihn anhaltend an, in der anstrengenden Unschuld eines Kindes.
Doch ansonsten brachte Kaufner von seinen Fahrten wenig heim. Die Fahrer der Sammeltaxis hatten es stets so eilig, daß sie sogar über Teppiche fuhren, die man auf die Straße gelegt hatte, um sie auszubürsten, übers Korn, das man dort drosch. Zeit war Geld, sie fuhren
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