Samuel Carver 01 - Target
Rolling Stone. Seine stahlgrauen Haare waren millimeterkurz. Er trug eine randlose Brille, einen anthrazitfarbenen Anzug, ein weißes Leinenhemd und eine hellbraune Strickkrawatte.
Seine krasse Modernität passte nicht in die unmittelbare Umgebung. Er hatte soeben den Salon eines Stadthauses aus dem achtzehnten Jahrhundert betreten, das verschwenderisch und extravagant eingerichtet war. Es hatte über drei Meter hohe Decken, einen Marmorkamin, antike Möbel, Perserteppiche und eine Ahnengalerie mit schweren Goldrahmen. Überformatige Bildbände und Hochglanzmagazine stapelten sich dekorativ auf den Beistelltischen. Wer diese Innenausstattung gewählt hatte, wollte die Pracht einer vergangenen Zeit wachrufen. Da war kein Vorhang, Lampenschirm oder Sesselbezug, an dem keine Fransen oder Quasten baumelten.
Max schaute sich angewidert um. Die Wohnung sah wie ein blödes Museum aus. Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf den älteren Mann in beiger Kordhose, grünem Pullover und hellblauem Button-Down-Hemd, der mit einem Glas Whisky in der Hand am Kamin stand. Der Mann war kräftig gebaut und setzte Fett an, da die Zeit, die Schwerkraft und ein Mangel an Sport ihren Tribut forderten.
»Ich habe Nachricht von Carver, Sir.«
Der Firmentitel dieses Mannes lautete ›Operationsvorstand‹. Einige Mitarbeiter nannten ihn O. D. Wenn er den Eindruck von Freundschaft vermitteln wollte, sagte er: »Nennen Sie mich Charlie.« Aber Max zog das ›Sir‹ vor. Er war mit seinen Bossen noch nie gern vertraulich geworden – sonst nahmen sie sich noch Freiheiten heraus. Immer nett und höflich bleiben, dann wusste jeder, woran er war.
»Wie kommt er voran?«, erkundigte sich der O. D. Er klang müde. Er strich sich durchs Haar und über den Hinterkopf. In den vergangenen zwei Tagen hatte er kaum drei Stunden geschlafen. Sie hatten unter Druck gearbeitet und zu viele Kurven geschnitten.
Max fragte sich, ob der alte Mann noch für solche Operationen geeignet war. »Gut«, sagte er. »Aber es gibt da eine Sache … Sieht aus, als hätte er einen plötzlichen Anfall von Gewissen gehabt.«
»Tatsächlich? Wieso?«
»Er hat sich Sorgen gemacht, dass unbeteiligte Leute umkommen könnten.«
Der O. D. lachte, riss sich aber sofort wieder zusammen, als er Max’ missbilligenden Gesichtsausdruck sah. »Verzeihung«, sagte er. »Anscheinend macht sich die Anstrengung bemerkbar. Aber Sie sehen sicher die Ironie dabei.«
»Ja, natürlich.«
»Gut, sind die Russen an ihrem Platz?« Der O.D. stieß einen kurzen frustrierten Seufzer aus. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn wir bei solch einer Aufgabe neue Leute einsetzen. Der Chairman hat mir allerdings versichert, dass sie phantastisch seien. Er muss es wissen.«
»Sie sind in Position«, antwortete Max, »und die Überwachungsteams sind bereit. Sobald etwas zu sehen ist, werden wir sofort handeln können.«
»Ausgezeichnet«, sagte der O.D. »Warten wir, dass die Show beginnt.«
5
Mitternacht war eine Viertelstunde vorbei. Samuel Carver hatte die Honda zwischen den Schenkeln und wartete darauf, dass es losging. Er blickte nach unten auf das schwarze Metallrohr, das hinter seinem rechten Bein an die Maschine geklemmt war. Es sah aus wie eine normale Taschenlampe mit langem Griff, wie sie von der Polizei und Sicherheitsdiensten benutzt wurde. Stattdessen handelte es sich jedoch um einen mobilen Diodenpumplaser, der auch Blender genannt wurde. Nachdem er als nicht tödliche Waffe für die amerikanische Polizei entwickelt worden war, war er von Spezialeinsatzkräften auf der ganzen Welt begeistert übernommen worden. Er emittierte einen grünen Laserstrahl auf einer Wellenlänge von 532 Nanometern. Sein Spitzname war allerdings irreführend. Wenn einem der Strahl in die Augen schien, wurde man nicht nur geblendet. Man war danach vollkommen handlungsunfähig.
Ein grüner Laserstrahl machte jeden, der hineinsah, orientierungslos, verwirrt und zeitweilig bewegungsunfähig. Das menschliche Gehirn konnte die schiere Lichtmenge nicht verarbeiten, die durch die optischen Nerven strömte. Daher reagierte es wie jeder überlastete Computer: Es stürzte ab.
Ob Nacht oder Tag, Regen oder Sonne, ein Blender war für einen Unfall genau das Richtige.
Es war nur noch eine Sache von Sekunden. Carver hatte sich an der Ausfahrt einer Unterführung positioniert, die unter einer Uferstraße an der Nordseite der Seine verlief. Wenn er den Kopf ein wenig nach rechts drehte, konnte er über den Fluss auf
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