Samuel Carver 01 - Target
offenherzig, und sie wollte keine Zeit vergeuden. Sie ging barfuß auf Zehenspitzen zur Tür und drehte behutsam den Knauf, ohne die Augen eine Sekunde vom Bett abzuwenden; dann zog sie die Tür einen Spalt weit auf und spähte auf den Gang.
Es schien niemand da zu sein. Die Männer waren bestimmt oben, Kursk in seinem kleinen Zimmer, die anderen in einem der Schlafräume unter dem Dach. Sie rechneten sicher nicht damit, dass Carver überhaupt imstande war zu fliehen. Doch wie sie Kursk kannte, stand irgendwo jemand Wache. Bei all seiner primitiven Brutalität war Kursk selten untüchtig und niemals nachlässig.
Im Erdgeschoss war niemand; es stank nur nach abgestandenem Rauch und dem verschütteten Schnaps. Der Wächter würde im Untergeschoss sein, in dem engen Technikraum neben der Folterkammer. Dort gab es ein Schaltbrett mit Knöpfen und Hebeln, wo der Befrager die Licht- und Toneffekte regeln konnte, und einen Monitor, der die Aufnahmen der Kamera an der Decke zeigte.
Als Aliks vor der schweren Kellertür stand, dachte sie an ihre Waffenausbildung, die fast zehn Jahre her war. Sie prüfte das Magazin und vergewisserte sich, dass die Waffe durchgeladen war. Sie entsicherte sie, hielt sie beidhändig vor sich und stieg die Treppe hinunter, bereit, sofort zu schießen.
Auf dem Kellergang war niemand. Aliks schlich lautlos über den nackten Betonboden zur Tür des Technikraums. Sie hielt die Pistole mit einer Hand hinter dem Rücken. Mit der anderen zog sie langsam die Tür auf. Wenn jemand drinnen war, würde sie behaupten, sie wolle den Engländer noch einmal leiden sehen. Die Männer wussten alle, dass sie wieder hoch in Juris Gunst stand. Sie würden ihr gern gefällig sein, um ihn nicht zu verärgern.
Die Tür schwang nach innen auf. Aliks schlüpfte seitlich hinein, damit der Aufpasser die Pistole nicht sehen konnte. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Es war Rutschew, und sein runder Schweinskopf war ihm auf die Brust gesunken. Das einzige Geräusch in dem Raum war sein leiser schnaufender Atem. Da er keinen Grund hatte zu glauben, dass etwas passieren könnte, war er in der Stille den Wirkungen des vielen Wodkas erlegen.
Aliks überlegte, was sie jetzt tun sollte. Rutschew durfte auf keinen Fall aufwachen und Alarm geben. Es war aber auch nichts Geeignetes greifbar, um ihn zu fesseln und zu knebeln. Es blieb keine andere Möglichkeit. Sie würde ihn im Schlaf erschießen müssen.
Aliks zielte aus einer Handbreit Entfernung auf seinen Kopf, bemühte sich, nicht zu zittern, vor allem aber, den Willen aufzubringen, einen anderen Menschen kaltblütig zu töten. Sie rief sich die vielen Gelegenheiten vor Augen, wo er sie lüstern begafft, scheinbar unabsichtlich ihre Brüste gestreift oder ihren Po berührt hatte. Es reichte nicht. Und dann wurde ihr Blick zum ersten Mal vom Licht des Monitors angezogen.
Sie drehte den Kopf und sah Carver gefesselt auf dem Stuhl sitzen, Mund und Augen offen, den Kopfhörer auf den Ohren. Es war die vollkommene Stille und seine Reglosigkeit, die ihr den größten Schrecken einjagte. Es musste unbegreiflich sein, was er zu erdulden hatte. Doch man sah ihm gar nicht an, dass er litt. Selbst die Fähigkeit, Schmerzen zu äußern, war ihm genommen worden.
Aliks konnte sich kaum von dem Bild losreißen. Der Anblick dieser ununterbrochenen Qual schlug sie trotz allen Entsetzens in den Bann. Zehn Sekunden lang stand sie reglos da und starrte auf den Monitor, dann fuhr sie herum und jagte ohne einen Augenblick des Zögerns Rutschew zwei Kugeln in den Kopf.
Der platzte auf wie eine reife Wassermelone. Ein Gemisch aus Blut, Hirnmasse, Knochensplittern und Haaren spritzte gegen die graue Wand, wo es in dicken Tropfen zunächst auf dem rauen Beton haftete und dann daran herunterrutschte. Aliks hatte zum zweiten Mal getötet. Diesmal war sie nicht vor Entsetzen zusammengebrochen. Diesmal hatte sie noch nicht einmal mehr einen zweiten Blick für die sterblichen Überreste übrig, als sie den Raum verließ. Ihre Gedanken galten einem anderen Mann. Ein paar Sekunden später schob sie die Riegel der Zellentür zur Seite.
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Das Hauptproblem der Folter liegt in den Menschen begründet, bei denen sie angewendet wird. Ihre Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten, ist begrenzt. Auch die zähesten, bestausgebildeten Soldaten und Agenten erreichen einen Punkt, wo sie bereit sind, alles zu sagen, um ihr Leiden zu verringern, was die Informationen, die mit Hilfe der Folter erlangt
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