Samuel Carver 02 - Survivor
geblendet.
Dann begann er sich zu bewegen. Mit einem Ruck streckte er den Rücken, bog ihn durch, warf den Kopf aufs Kissen, riss den Mund auf, um leise zu stöhnen, während seine Arme und Beine zuckten. Das Zucken wurde wilder, das Stöhnen lauter. Bald hatte es sich zu einem Schrei gesteigert.
»Wach auf, wach auf!«
Aleksandra Petrowa fasste ihn bei den Schultern und schüttelte ihn sanft, um ihn aus den Fängen des Albtraums zu befreien. Weil er schon seit Monaten nicht mehr aktiv war, fühlte sich sein Körper kraftlos und schlaff an. Sein Gesicht war runder geworden, die Züge hatten an Schärfe verloren, da die Knochen hinter der aufgeschwemmten Haut verschwanden. Seine Augen waren gerötet und voller Angst.
Die Schreie verebbten und gingen in ein wirres, halb bewusstes Gemurmel über. Dann, als er wach wurde, war alles wie immer: Er richtete sich halb auf, sah sich panisch nach allen Seiten um, entspannte sich langsam wieder und ließ sich auf das Kissen sinken, während sie ihm die Hand streichelte und ihn beruhigte. Schließlich, wie eine mühsame Reaktion, versuchte er ein Lächeln und ein leises Hallo.
Und dann noch ein Wort: »Aliks.«
So hatte Carver sie in den Tagen genannt, die sie zusammen verbracht hatten, bevor er in die Privatklinik am Genfer See eingewiesen worden war. Es war ein Zeichen, dass er sie erkannte und dass er für ihre Gesellschaft dankbar war, wenn er sich auch nicht erinnern konnte, was sie ihm einmal bedeutet hatte. Allerdings wusste er auch nicht, wer Samuel Carver wirklich war, was er getan und was andere ihm angetan hatten.
»Wieder der gleiche Traum?«, fragte sie.
Er kniff einen Augenblick lang die Augen zu, wie um die letzten Fragmente des Schreckens aus dem Kopf zu drängen, dann antwortete er: »Nicht der gleiche Traum, aber das gleiche Ende, wie immer.«
»Kannst du dich diesmal erinnern, was am Anfang des Traums passiert?«
Carver überlegte eine Weile.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. Er klang gleichgültig, als würde er die Wichtigkeit der Frage nicht verstehen.
»Versuch es«, beharrte Aliks.
Carver verzog vor Anstrengung das Gesicht.
»Ich war Soldat«, sagte er. »Es wurde gekämpft, in der Wüste … Dann veränderte sich alles.«
»Wahrscheinlich hast du von etwas geträumt, das du erlebt hast. Du bist früher Soldat gewesen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Das hast du mir schon erzählt. Das weiß ich noch.«
Er sah sie an, sein Blick bat um Zustimmung. Zum x-ten Mal versuchte sie sich einzureden, dass der Mann, den sie liebte, noch irgendwo da drinnen war. Sie stellte sich vor, wie die Leere aus seinen Augen verschwand und die leidenschaftliche Schärfe in seinen Blick zurückkehrte, die sie bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. Sie dachte an die unerwartete Zärtlichkeit in den heimlichen Stunden ihres Beisammenseins, wo sie die Welt draußen ausgesperrt hatten.
Sie waren beide in Paris gewesen, in der Nacht des 31. August 1997, um an demselben Auftrag zu arbeiten. Carver hatte am Ende des Alma-Tunnels gestanden und auf einen Wagen gewartet. Sie hatte als Sozius auf einem Motorrad gesessen und mit der Kamera Blitzlichter auf den Mercedes abgeschossen, um den Mann hinterm Steuer zu noch höherer Geschwindigkeit anzutreiben und ihn dem Tod von Carvers Hand entgegenzuhetzen.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie eine Pistole auf ihn gerichtet. Innerhalb von Sekunden hatte er sie auf den Asphalt gedrückt und ihr sein Knie ins Kreuz gestemmt. Eine halbe Stunde später war sie ihm in ein Haus gefolgt, von dem sie wusste, dass er es mit Sprengladungen bestückt hatte und dass sie jeden Moment hochgehen würden, und sie hatte voll und ganz auf seine Fähigkeit vertraut, sie beide lebend wieder hinauszubringen.
Jetzt waren sie in der Schweiz, fast fünf Monate später, zwei Menschen, denen ein schrecklicher Gewaltakt aufgezwungen worden war und die in den wenigen kostbaren Augenblicken gemeinsamen Friedens einen Funken Hoffnung fanden, nicht nur auf Liebe, sondern auch auf ein wenig Erlösung.
Denn Aliks hatte ihre eigenen Geheimnisse. Auf ihrer Reise aus einer der düsteren Provinzen der Sowjetunion in den protzigen Luxus des postkommunistischen Moskau hatte auch sie ihrer Seele geschadet. Wie Carver sehnte sie sich nach Entkommen. Stattdessen klebte die Vergangenheit an ihr, genauso wie an ihm. Sie hatte einen bitteren Preis von ihr gefordert, eine Nacht voller Folter und Blutvergießen, wo Carver so furchtbaren Qualen ausgesetzt war, dass
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