Samuel Carver 02 - Survivor
seine Persönlichkeit aus den Verankerungen gerissen wurde. Seine Erinnerungen waren so tief vergraben, dass man sie nicht einfach wieder an die Oberfläche holen konnte.
Aliks hatte sich sogar schon gefragt, ob sie ihn wirklich noch liebte. Wie konnte man einen Menschen lieben, der nicht mehr wusste, wer man war oder was man ihm bedeutet hatte? Sie war sich sicher, dass sie Samuel Carver einmal geliebt hatte. Sie würde ihn immer noch lieben, wenn er bei ihr wäre. Aber war dieser Mann dort auf dem Bett noch Samuel Carver? War er überhaupt noch ein Mann?
Sie beschäftigte sich mit seinen Kissen, schüttelte sie auf, verteilte sie neu, gab vor, es ihm bequem zu machen, aber eigentlich wollte sie sich von dieser Grübelei ablenken und von dem Schuldgefühl, das in ihr hochkam, weil sie diese Überlegungen überhaupt angestellt hatte.
Hinter ihr räusperte sich jemand diskret.
In der Tür stand ein Mann in dunkelgrauem Anzug und Krawatte, die ein so dezentes Muster hatte, dass es fast nicht zu sehen war.
»Kommen Sie bitte«, sagte er.
5
»Guten Tag, Monsieur Marchand«, sagte Aliks. Sie strengte sich an, sich gerade hinzusetzen und so heiter zu lächeln, wie es ihr trotz Müdigkeit und Anspannung nur möglich war.
Sie sprach Französisch. Das war immerhin ein positiver Aspekt der letzten paar Monate. Sie beherrschte eine dritte Sprache außer Russisch und Englisch, das sie vor zehn Jahren beim KGB gelernt hatte. Dort war sie auch ausgebildet worden, jeden Mann, den sie wollte, für sich zu gewinnen, doch Marchand gab sich immun gegen das, was von ihren alten Kräften noch übrig war. Er war der Leiter der Finanzabteilung der Klinik. Sein einziges Interesse galt den Bilanzen.
»Hätten Sie einen Moment Zeit für mich, Mademoiselle Petrowa?«, fragte er, wobei es ihm gelang, seine ölig servile Höflichkeit mit dem unmissverständlichen Anflug einer Drohung zu versehen. Er wartete, bis sie ihm auf den Flur gefolgt war und Carver sie nicht mehr hören konnte, dann redete er weiter.
»Es geht um Monsieur Carvers Rechnung. Der Betrag für den vergangenen Monat ist bald überfällig. Ich nehme an, da besteht kein Problem. Sie sollten jedoch wissen, dass die Klinik eine Behandlung prinzipiell abbricht, wenn ein Patient seine Rechnung nicht begleichen kann.«
»Ich verstehe das vollkommen«, sagte Aliks. »Das ist kein Problem. Die Rechnung wird beglichen.«
Marchand nickte knapp und ging. Aliks sah hinter ihm her. Erst als er um die Ecke gebogen war, ging sie wieder hinein. Sie ließ sich in den Besuchersessel fallen und stützte den Kopf in beide Hände.
Irgendwo hatte Carver ein Vermögen, die Gewinne aus seinem tödlichen Gewerbe, die auf einem anonymen ausländischen Bankkonto oder in Bankschließfächern versteckt waren. Davon konnte man Marchand noch jahrelang zufriedenstellen, aber nur Carver selbst wusste, wo das Geld war. Und im Augenblick war ihm nicht bewusst, dass es überhaupt existierte.
Immerhin hatte er noch einen Wohltäter. Thor Larsson, der große, dünne Norweger mit den Rastalocken, Carvers Technik- und Computerfachmann und sein engster Freund, hatte Aliks in Carvers Wohnung gelassen. Er hatte die Sanatoriumsrechnungen von dem Honorar bezahlt, das er von Carver bekommen hatte. Aber sein Geld ging zur Neige, und er konnte ihr nichts mehr geben.
Aliks hätte liebend gern etwas dazu beigetragen, aber sie hatte keinen gültigen Ausweis und weder eine Arbeits- noch eine Aufenthaltserlaubnis und somit auch nicht die Möglichkeit, an einen anständigen Job heranzukommen. Zumindest die Tage verbrachte sie an Carvers Seite. Nachts arbeitete sie als Kellnerin in einem schäbigen Bierkeller, dessen Besitzer angesichts der Schweizer Arbeitsbestimmungen nur zu gern ein Auge zudrückte, wenn er willige Einwanderinnen billig beschäftigen konnte. Wie er den jungen Frauen gern entgegenhielt, gab es in der Schweiz keinen gesetzlichen Mindestlohn. Aliks konnte zwar mit den Trinkgeldern über die Runden kommen, aber sie konnte nicht hoffen, Carvers Rechnungen davon zu bezahlen. Nicht solange sie nur als Kellnerin arbeitete.
6
Lew Jussow war zweiundfünfzig Jahre alt. Westliche Augen hätten ihn jedoch mindestens zehn Jahre älter geschätzt. Er rauchte zu viele filterlose Zigaretten und trank zu viel billigen Wodka. Seine Einraumwohnung war im Sommer stickig und im Winter ungeheizt. Von den Wänden blätterte die Farbe ab, die Fensterrahmen verrotteten. Aber Jussow war nicht schlimmer dran als jeder
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