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Samuel Koch - Zwei Leben

Samuel Koch - Zwei Leben

Titel: Samuel Koch - Zwei Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fasel
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finden, in der ich sitzend mein Gleichgewicht suchte. Eine wackelige Angelegenheit. Ich schwankte wie ein Bauklötzchenturm im Wind. Aber zumindest kippte ich nicht sang- und klanglos zur Seite, wie es mir anfangs passierte. Ein Fortschritt, immerhin.
    Hagen schloss mich an die Elektro-Stimulatoren an, die auf die Arme geklebt werden. Sie leiten kurze elektrische Impulse durch die Muskeln, um sie zu stimulieren. Dabei führen die Stromstöße, so dosiert sie auch sind, zu manchen Zuckungen der Muskeln am ganzen Körper. Nicht immer ist das angenehm. Aber anscheinend bringt es etwas. Und wenn es etwas bringt, mache ich das gerne.
    Hagen hatte wie alle zuerst großen Respekt vor meinen ungewöhnlichen Genickverletzungen. Doch wir einigten uns schnell darauf, mich zu quälen. Wir waren auf einer Wellenlänge und verfolgten unausgesprochen dieselben Ziele: Möglichst schnell möglichst viel Fortschritt und dabei gern auch mal neue Sachen ausprobieren. Hagens Mischung aus zupackender Zuneigung, medizinischem Wissen und reichhaltiger Erfahrung war genau das Richtige für mich. Die mittlerweile knapp 700 Therapieeinheiten mit ihm haben mir nicht nur körperlich gutgetan. Noch heute kommt er aus der Schweiz angereist, um den Physiotherapeuten vor Ort zu zeigen, wie sie mich anpacken müssen.
    Der Blick in die Runde des Therapiesaals war nicht immer schön. Es ist hart zu sehen, was die anderen alles können . Kaum einer bewegte weniger als ich. Einige kamen gelähmt und gingen zu Fuß, während ich weiter nach Fortschritten lechzte.
    Wenn ich irgendwo noch eine halbe Stunde Zeit dazwischenquetschen konnte, dachte ich: Nur keine Gelegenheit verschenken. Ich könnte doch noch an das Handfahrrad ran und die halbe Stunde durchkurbeln, die Schultermuskeln trainieren. Hagen unterstützte mich dabei, wo er konnte. Diese Muskeln waren es ja, derer ich mich jetzt vor allem bediente und mit deren Hilfe ich es schaffte, mein Repertoire an Bewegungen langsam zu erweitern.
    Ein grotesker Kontrast zu dem Training, das ich früher als Turner absolviert habe. Doch jetzt geht es um viel mehr als die nächste Übung, den nächsten Wettkampf. Ich kämpfe um mich selbst. Um die Erhaltung und Erweiterung dessen, was ich noch kann. Um Freiheit und Selbstbestimmung.
Mehr als Freundschaft
    Es fiel mir schwer, mich dem festgelegten Rhythmus im Krankenhaus anzupassen. Spätestens um 23:00 Uhr müssen Tetraplegiker wie ich eigentlich im Bett sein. Denn es ist besonders aufwendig, diese Patienten zu versorgen. Für die Zeit von 18:00 Uhr bis 23:00 Uhr gibt es deshalb eine Extra-Pflegekraft, den sogenannten „Nachtfalter“.
    Ging es nach den Dienstzeiten des „Nachtfalters“, musste auch ich also spätestens um 23:00 Uhr im Bett sein. Die Schweizer sind ein korrektes Volk und haben da eine kuriose Rigorosität. Deshalb räumten die Schwestern auch die Tabletts pünktlich nach einer Stunde ab, selbst wenn ich noch nicht dazu gekommen war, etwas zu essen.
    Anfangs versuchte ich, mich diesem Rhythmus anzupassen. Doch dann stellte ich fest: Der Tag reichte nie ganz aus. Morgentoilette, Frühstück, Physiotherapie erster Teil, Stehtraining, physikalische Therapie, dann Mittagessen. Danach ging es zur Ergotherapie, was jeden Tag etwas anderes bedeuten konnte: Bart de Kimpe, der Ergotherapeut, hatte ein breites Wissen auf den verschiedensten Gebieten. Da gab es den Armroboter oder die Elektrotherapie sowie die Auswahl und knifflige Anpassung diverser Hilfsmittel und Rollstuhlteile. Danach konnte ich zwischen Französischunterricht, Psychologie, PC-Kurs oder Eigentraining wählen, und später kam Physiotherapie zweiter Teil.
    Dann war es meist schon 17:00 Uhr. Es folgten viele Besuche, viele Briefe und Pakete, ich trainierte mit dem Handfahrrad, tätigte dabei Telefonanrufe, checkte E-Mails, diskutierte über Medienanfragen. Und noch bevor ich dann ein persönliches Gespräch führen oder Wahllektüre genießen konnte, war es schon 23:00 Uhr! Die Konsequenz war: Es musste ohne die Hilfe des „Nachtfalters“ gehen.
    Doch wie sollten wir das organisieren? Meine Eltern, meine Geschwister, liebe Freunde standen sofort bereit und teilten sich fortan in einen Wechseldienst, der mir ermöglichte, bis tief in die Nacht noch mit dem Handfahrrad zu trainieren und die vielen Tausend Briefe und Mails, die mich bis zu diesem Zeitpunkt schon erreicht hatten,

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