Samuel Koch - Zwei Leben
können.
Eine Welle bricht los
Mein Vater erzählt: âIm Nachhinein habe ich durch diese Ereignisse erst vieles von dem erfahren, was und wo mein Sohn überall gewirkt hat. Es gibt ja den Spruch:
Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist . In Samuels Fall habe ich durch die Reaktionen seiner Freunde meinen Sohn ganz neu kennengelernt. Alle, wirklich alle Freunde und auch eher flüchtigen Bekannten hatten ihn in bester Erinnerung, fragten besorgt nach ihm und wollten ihn besuchen kommen. Mit einem Besuchskalender konnten wir den Ansturm später gut verteilen. Bis heute ist der Strom der Besucher nicht abgerissen. Gleichzeitig erreichte uns immer mehr Post. Um den Ansturm von Anfragen zu bewältigen, richtete das SPZ uns eine eigene Website ein â mit Adresse.â
Erst nachdem ich die schlimmsten Komplikationen in Nottwil hinter mir hatte, sickerte die Reaktion der Ãffentlichkeit in mein Bewusstsein. Es ist unglaublich, was sich da alles abspielte.
Um bei mir zu sein, durften meine Mutter und mein Vater in den ersten Wochen in Nottwil eine der sogenannten âÃbungswohnungenâ benutzen. Das sind komplett behindertengerecht eingerichtete Apartments, in denen Paraplegiker ihre Resozialisierung proben können â mit dem Vorteil, dass sie immer noch in die Klinik integriert sind. Im Ernstfall ist also sofort Fachpersonal zur Stelle. Eine dieser Wohnungen stand bei meiner Einlieferung leer, und meine Eltern durften sie übergangsweise nutzen.
âWir haben die Kinder aus der Schule genommen und waren in den Tagen vor Weihnachten alle zusammen in Nottwilâ, erzählt mein Vater.
In dieser Ãbungswohnung waren nach drei Wochen schon die Kisten mit Post vom Flur bis zum Wohnzimmer meterhoch aufgestapelt. Und der Berg wuchs immer höher. Zu der Zeit, mehr noch als heute, waren meine Eltern gleichzeitig mein Sekretariat. Doch all die Post zu beantworten, das war in dieser Zeit unmöglich, auch wenn wir immer wieder versucht haben, der Berge guter Wünsche Herr zu werden.
Danke an alle, die ihre guten Wünsche, ihr Mitgefühl, ihre Erfahrungsberichte mit ähnlichen Schicksalen zu Papier gebracht und an mich gesendet haben. Leider kann ich auch heute noch keinen Kugelschreiber halten und keine Tasten bedienen. Deshalb werde ich es wohl nicht schaffen, mich bei allen persönlich zu bedanken.
Wie sollten meine Eltern und Geschwister nun aus den Bergen von Zuschriften diejenigen auswählen, die mir vorgelesen wurden?
âWir haben versucht, ein bisschen vorzusortierenâ, erzählt mein Papa: âDen Absender kennen wir â schöne Post. Kennen wir nicht, spricht uns aber auch nicht an. Kennen wir nicht, berührt uns. Nach zwei Stunden gaben wir auf. Wir hatten schon wieder die nächste Kiste Post bekommen. Es war ja Vorweihnachtszeit. Manche packten uns kleine Geschenke mit ein â ein Engel, etwas SüÃes, Bücher, CDs, Erlebnisberichte, Hinweise auf Ãrzte und Heilungsmethoden. Ein schweres Paket enthielt die über 72.000 Einträge einer eigens für Samuel erstellten Facebook-Seite auf Hunderten DIN-A4-Seiten ausgedruckt. Selbstgestaltete Collagen, Gruppenfotos mit Genesungswünschen. Wir beschlossen, erst mal alles nur zu sammeln, wir wollten die Sichtung später nachholen. Wir holen sie heute noch nach.
Es war sehr gut, dass wir nicht zu Hause waren, so hat uns das Telefon in Ruhe gelassen, und nur der engere Kreis hat uns via Handy erreicht. Ich habe Rundmails und SMS geschrieben, obwohl das viel Zeit kostete, denn mit jeder SMS wurde ein Beter angesprochen. Wir haben jahrzehntelang den Kindergottesdienst gestaltet und Lieder gesungen: ,Mein Gott ist so groÃ, so stark und so mächtig, gar nichts ist unmöglich meinem Gottâ. Das galt auch weiterhin. Schon vor Jahren hatte ich mir ein E-Mail-Postfach mit 11 GB Speicherplatz zugelegt. Das war jetzt sehr nützlich. Unsere Kinder waren natürlich medial auch nicht untätig und hielten jeweils ihren Bekanntenkreis auf dem Laufenden.
Allmählich entwickelte sich eine groÃe Gemeinschaft, bis hin zu einzelnen Kontakten in Kanada und den USA, wo man ebenfalls über Samuel Bescheid wusste. Es war verrückt und traurig zugleich. Wie beschaulich war dagegen doch unsere dörfliche Gemeinschaft zu Hause gewesen! Apropos Gemeinschaft â auch in unserem Heimatort erfuhren wir eine rührende Hilfsbereitschaft. Ganz ohne Medien und
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