Samuel Koch - Zwei Leben
lustige Gespräche geführt und es war alles ganz normal: Wir drei Geschwister und unsere Freunde machen was zusammen!â
Doch diese Seifenblase zerplatzte schnell, als jemand vorschlug, doch mal die XXL-Version mit Pantomime und Zeichnen zu spielen. Kurze Pause, betretene Gesichter, ein breites Grinsen von mir, und wir waren zurück im wahren Leben.
Ich unternehme immer gern etwas mit Rebecca. Wir fahren einfach zusammen die StraÃe runter zu der Stelle, wo man den Sonnenuntergang am besten sehen kann. âIch massiere Samuel die Hände und wir reden miteinander oder schweigen auch malâ, erzählt Rebecca. âWir gehen auch gern zusammen weg und kaufen ein paar hübsche Klamotten!â
Natürlich ist es für Elisabeth, Rebecca und Jonathan immer noch manchmal komisch, ihren groÃen Bruder so bedürftig und hilflos zu erleben. âEr war halt immer der groÃe Bruder, für den keine Mauer ein Hindernis war. Da ist er einfach drübergehüpftâ, sagt Rebecca. âJetzt ist für ihn jeder Bordstein ein Hindernis!â
Doch für beide Seiten, meine Geschwister und mich, setzt trotz allem langsam eine gewisse Gewöhnung an das Ungewöhnliche ein, was gut ist, aber mich gleichzeitig erschreckt. Denn Gewöhnen klingt für mich immer etwas nach Resignation. Ein Wort, bei dem ich Gänsehaut bekomme.
Tragen und ertragen
Im Moment sind meine Familienmitglieder die Menschen, die mich tragen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Und die mich ertragen müssen.
Immerhin konnte ich meinem Bruder Jonathan, der sieben Jahre jünger ist als ich, mit meinem Unfall einen Wunsch erfüllen. Jonathan hat sich immer einen kleineren Bruder gewünscht. Jetzt hat er ganz plötzlich einen, den er sogar füttern, tränken und betüddeln kann. Doch das ist für ihn kein Spiel wie mit einer BabyBorn-Puppe, sondern er kann mich mittlerweile beinahe komplett versorgen. Und nach seinem zweiwöchigen Praktikum in der Klinik in Nottwil hat er auch eine ungefähre Vorstellung davon, wie er meine Gelenke durchbewegen kann.
Meine Geschwister sind neben meinen Eltern und meinen engen Freunden die einzigen Menschen, die mich wirklich kennen. Sie wissen um meine Macken, haben erlebt, dass ich oberflächlich sein konnte und auch mal rücksichtslos in der Durchsetzung meiner Ziele.
Egal, ob es einem bewusst ist oder nicht: Man spielt automatisch eine Rolle im Leben der Leute, die einem nahestehen. Ob das eine positive, hilfreiche Rolle ist oder nicht, liegt ganz bei einem selbst.
Heute lebe ich meinen Geschwistern auch wieder etwas vor, einfach indem ich bin, was ich bin. Es ist die herausforderndste Rolle meines Lebens. Ich breche zuweilen fast unter der Last zusammen, immer weitermachen zu müssen. Natürlich will ich nicht damit hausieren gehen, wenn es mir mal wieder dreckig geht. Aber niemand kann in meiner Situation endlos kraftvoll und mutig sein.
âDas geht überhaupt nicht!â, sagt meine Mutter. âDas kann kein Mensch. Würde man das erwarten, würde man Samuel heillos überfordern. Und man darf erst recht nicht den heiligen Samuel aus ihm machen.â
Sie alle bekommen im wahrsten Sinne des Wortes hautnah mit, wie es mir in beinahe jeder Sekunde geht. Sie freuen sich über Fortschritte und lustige Erlebnisse, aber sie kriegen auch meine Frustration ab und müssen die ganz finsteren Momente ertragen, ohne mir richtig helfen zu können. Das ist nicht leicht. Und ich bin nicht immer nett, obwohl ich versuche, es zu sein.
âKurz nach dem Unfall habe ich Samuel gesagt, ich würde mit ihm tauschen, wenn ich könnteâ, erinnert sich mein Vater. â,Du hast das ganze Leben noch vor dir; ich bin älter und könnte vielleicht besser damit umgehenâ, habe ich gemeint.â
Ich habe ihm reichlich unverblümt geantwortet: âDu redest wie ein Blinder von der Farbe!â
Mein Vater hat danach diesen Gedanken nie wieder angesprochen.
13. Die Entdeckung der Langsamkeit
Im Moment teilt sich meine ganze Lebensbetrachtung in âVor dem Unfallâ und âNach dem Unfallâ. Nichts ist mehr so wie vorher. Das gilt auch für meinen Umgang mit der Zeit. Der Unfall verändert unser aller Leben â meines und das meiner Nächsten. Es bleibt nichts so, wie es war. Gerade im Hinblick auf die Zeit. Früher, ja da war ich Sportler. Meine zwei Beine, mein Fahrrad, mein Motorroller,
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