Samuel Koch - Zwei Leben
vorausgesetzt, dass man konsequent trainiertâ â und das habe ich definitiv getan. Ich hatte keine Ahnung, warum es bei mir rückwärtsging. Nach diversen Untersuchungen kamen die Ãrzte zu dem Schluss, dass meine Muskeln bei Kälte wohl einfach weniger funktionstüchtig sind.
Dazu kommen die Schmerzen, die mein Leben immer noch weitaus mehr ausbremsen, als ich je für möglich gehalten hätte. Meine Genesung schreitet also nicht so voran wie geplant.
Die Hoffnung bleibt
Zum Glück ist die Muskulatur in meinem Nacken wenigstens kräftiger geworden, sodass ich meinen Kopf auch ohne Halskrause aufrecht halten kann. Auch wenn die nicht richtig zusammengeheilten Wirbel immer wieder Ãrger machen.
Trotzdem, es gibt immer Momente, in denen die Hoffnung aufscheint und mein Beharren darauf, mich nicht mit dem Status quo zufriedenzugeben, belohnt wird. Zum Beispiel, als mein Bruder Jonathan bei mir in der Klinik in Nottwil war; er half mir eines Abends beim Ausziehen und bewegte danach meine Beine durch, wie Hagen es ihm gezeigt hatte. Auf einmal forderte er mich auf: âSamuel, versuch mal, deinen Zeh zu bewegen.â
Ich habe es versucht, und tatsächlich, der Zeh hörte auf mein Kommando! Das war umwerfend. Wir waren ganz aus dem Häuschen. Jonathan hat gleich mit seinem Handy dieses Naturschauspiel gefilmt, und wir haben das Video per Mail versendet, damit es der Nachwelt erhalten blieb. Ich glaube, an diesem Abend bin ich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht eingeschlafen. Und das nur wegen einem kleinen Zeh, der sicherlich nicht die Weltherrschaft an sich reiÃt. Aber für mich ist dieser Zeh ein Zeichen, dass es noch Hoffnung gibt â dass es noch Nervenbahnen gibt, die funktionieren.
Gute Momente
Meine Schwester Rebecca hat auf die Frage, was ihr helfe, mit dem ganzen Tohuwabohu seit meinem Unfall umzugehen, mal gesagt: âHilfreich ist zuallererst meine Familie und dann auch der Glaube daran, dass es mit Samuel irgendwann wieder gut wird. Die Hoffnung, dass das Leben wieder schön wird!â
Nach dem Unfall ist unser Verhältnis intensiver geworden. Wir sind brutaler zueinander und gleichzeitig wärmer. Unsere Gespräche sind tiefer, weil wir mehr als zuvor die Kostbarkeit des Lebens schätzen. Wenn wir heute übereinander und miteinander lachen, dann tun wir das mit einem Gefühl von Dankbarkeit dafür, dass wir überhaupt wieder lachen können.
Seit ich aus der Klinik entlassen wurde, wohne ich für eine Ãbergangsphase bei meinen Eltern. Dieser provisorische Zustand lässt noch keine Normalität einkehren. Wider Erwarten haben wir schnell einen harmonischen Rhythmus gefunden, doch es gibt auch viele Unwägbarkeiten. Zum Beispiel müssen sich immer neue Pflegekräfte auf mich einstellen und umgekehrt, da ich im Moment von sogenannten âSpringernâ betreut werde, die immer nur für 10 Tage da sind.
Rebecca empfindet unser Leben wieder als halbwegs machbar: âSeit ein paar Wochen merke ich: Ja, das wird jetzt einfach Stück für Stück so!â, erzählt sie. âDas ist halt jetzt die ungewöhnliche Normalität, die wir leben!â
Rebecca ist auch diejenige, die immer wieder sagt: âWir alle brauchen einfach noch Geduld!â
âZufrieden sein, aber sich nicht zufriedengeben!â, das trifft unseren Aggregatzustand ganz gut.
Sich nicht zufriedenzugeben ist immer gut. Man ist nie fertig mit seiner Entwicklung. Der Optimierungsdrang, der Wunsch nach Veränderung und Weiterkommen ist bei mir naturgemäà im Moment sehr stark. Aber auch wenn es wie ein Widerspruch dazu scheint, lerne ich gerade verstärkt, zufrieden zu sein, auch zwangsläufig zu entschleunigen, innezuhalten und zu begreifen: Die Gegenwart kann eine wunderbare Dimension sein, in der es sich zu leben lohnt. Jetzt, in diesem Moment, kann ich die Schönheit der Schöpfung wahrnehmen, Erfahrungen austauschen. Einen schönen Abend im Kreis lieber Leute genieÃen und zeitweise vergessen, was mit mir los ist. Vielleicht ist das also kein Widerspruch, sondern eine gesunde oder gar lebensnotwendige Spannung.
Das letzte Jahr hielt für uns ein Riesenpaket von Erfahrungen bereit. Die schwierigste Schule, die man besuchen kann. Es gab viele schwierige und manche richtig schlimmen Tage, doch dazwischen auch immer wieder schöne Momente. Rebecca erinnert sich an einen Kinobesuch. Wir waren zusammen in
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