Samuel Koch - Zwei Leben
Nichts. Noch nicht einmal mehr ein âPiep-Piepâ ist zu hören. Mittlerweile ist es 21:45 Uhr.
Ich sitze da als Fünf-Zentner-Hybrid von Mensch und Maschine â und komme so auf keinen Fall aus dem Auto heraus. âDann werde ich halt hier drin übernachten!â
Die anderen winken ab: âWir kriegen das schon hin!â
Mein Vater beschlieÃt, beim technischen 24-Stunden-Notdienst des Krankenhauses in Nottwil anzurufen und Rat einzuholen. Und wirklich, da ist ein freundlicher Herr am anderen Ende der Leitung, der uns in singendem Schwyzerdütsch durch Scharniere, Schrauben und Verkabelungen des Hightech-Rollstuhls lotst â aber nach 20 Minuten muss auch er aufgeben. Der Fehler ist nicht zu lokalisieren und damit auch nicht zu beheben.
22:15 Uhr. Was tun? Mit ein paar technischen Kniffen kann mein Vater den Rollstuhl mit mir drin wenigstens von Hand in Bewegung setzen und aus dem Auto bugsieren. Da wären wir nun. Mitten auf der StraÃe. Es ist kühl. Wenigstens regnet es nicht.
Meine Eltern bauen den kleinen mechanischen Rollstuhl auf, den wir immer dabeihaben. Zwei Nachbarn helfen dabei, mich vom havarierten Sitz in den kleinen Rollstuhl zu hieven. Fünf Menschen braucht es insgesamt, um mich zu bewegen. Fünf Menschen! , geht es mir durch den Kopf. Vor einem Jahr noch hätte ich jeden dieser fünf spielend auf den Arm nehmen können. Jetzt aber muss ich mich in die Tatsachen fügen. Ich muss sie jetzt, für diesen Augenblick, annehmen â und gleichzeitig Kraft aus dem Gedanken schöpfen: In einem Jahr wirst du nicht mehr so viele Menschen brauchen, um dich von einer Position in die andere zu begeben.
Im Moment kann ich aber nichts weiter tun, als einfach dazusitzen und zuzusehen, wie die anderen alle um mich herumwuseln. Das ist auch so ein Thema, das mir ganz neu bewusst geworden ist:
Die Schönheit der Nützlichkeit.
Es ist ein doofes Gefühl, dass ich nicht nur bei allem Hilfe brauche, sondern mich auch andersherum nicht mehr nützlich machen kann. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen mir das schmerzlich vor Augen geführt wurde. Wenn einer Schwester, die mir etwas zu trinken reichen wollte, das Glas herunterfiel, setzte bei mir sofort der âAufhebreflexâ ein â doch das ging ja nicht. Ich musste also tatenlos dabei zusehen, wie sie alles aufputzte. Das fiel echt schwer, sodass ich mich dann manchmal entschuldigte und einfach wegfuhr, um meine Nutzlosigkeit nicht länger mit ansehen zu müssen. Deshalb freue ich mich schon, wenn ich als Mantelhalter dienen kann oder mir ein Freund beim Einkaufen die Tüten auf die Beine stellt und ich sie wenigstens zum Auto transportieren kann.
Um 22:30 Uhr sind wir endlich im Haus. Kerzen, Spaghetti, Freunde, Gespräche. Die Zeit verliert ihr übliches Korsett. Jeder weiÃ, dass das Leben mich jeden Moment vor neue, ungeahnte Schwierigkeiten stellen kann. Und dass es so ist, gibt mir nun eine Art Ruhe. Ich weiÃ, ich kann die Zeit nicht mehr zwingen, mir untertan zu sein. Ich kann nur eines tun: gelassen bleiben, ihr Freund werden, Ruhe gewinnen. Denn ich brauche Zeit, damit die Hoffnung Platz findet, sich zu entfalten.
Reise in die Vergangenheit
An einem anderen Tag machen wir einen speziellen Besuch. Einen Besuch, vor dem ich mich lange gescheut habe. Gergö, mein langjähriger Trainingspartner, Freund und Mannschaftskamerad für die französische und die deutsche Liga, nimmt mich mit in meine alte Trainingshalle in Frankreich. Zum ersten Mal seit meinem Unfall bin ich wieder in der vertrauten Halle, in der ich früher mindestens 3 Stunden täglich verbracht habe, zum ersten Mal nach exakt einem Jahr und einem Monat.
Alle Trainingsgruppen sind da. Alte Turnkameraden und mein Trainer sind extra dazugekommen. Ich rolle in die Halle, alle unterbrechen das Training, kommen auf mich zu, die Jungen, die Alten. Ich schaue mich um, sauge den Geruch nach Magnesium und SchweiÃ, nach Leder und Training ein. Es ist alles noch so, wie ich es in Erinnerung habe: In der Mitte die 12 auf 12 Meter groÃe Turnbodenfläche, drei fest installierte Seitpferde und unzählige mobile, Schwebebalken, drei Barren, vier Recks, drei Ringanlagen, zwei Sprungtische, Stufenbarren, eine Grube mit Sprungtuch.
Auch die jüngeren Turner sind da, Kinder, bei deren Training in den Nachwuchsgruppen ich assistiert habe. Wie groà sie alle in dem einen Jahr geworden sind! Es ist
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