Samuel Koch - Zwei Leben
völlig selbstbestimmtes Leben geführt hat â in jeder Weise, auch beim Essen. Der Unfall hat das radikal verändert. Ich kann nichts mehr essen, ohne dass es mir angeboten wird. Es geht ja nicht nur um kleine Handgriffe. Ich musste mir erst einmal im Kopf klarmachen, wie total diese neue Abhängigkeit ist. Ohne liebevolle Menschen um mich herum, die sich meiner annehmen, würde ich schlichtweg verhungern und verdursten â und ich könnte aus eigener Kraft nichts dagegen tun.
Die Intimität des Essens
In einer Pflegefachzeitschrift äuÃerte ich mich zum Thema Essen und Pflege:
âVor dem Unfall hatte ich durch das tägliche Training einen gesunden Stoffwechsel und einen hohen Grundumsatz. Wenn ich Hunger hatte, aà ich etwas, ganz einfach. Heute ist das anders, denn auch meine inneren Organe sind von der Lähmung betroffen. Durch meine Bewegungslosigkeit verbrenne ich so gut wie keine Kalorien. Daher verspüre ich nur noch ein eingeschränktes Hungergefühl.
In den ersten Monaten nach dem Unfall musste ich mich regelrecht zwingen (lassen), etwas zu mir zu nehmen. Das ging so weit, dass ich erst merkte, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, wenn mein Kreislauf zusammenbrach.
Heute habe ich immer noch wenig Hunger, aber zumindest hin und wieder etwas Appetit. So habe ich von den 20 Kilo Gewicht, die ich in den ersten Monaten verloren habe, inzwischen 10 wieder zugelegt. Das Dumme ist, dass mit der fehlenden Bewegung auch die Lust am Essen wegfällt. Und das sinnliche Erleben des Essens ist stark reduziert, weil ich es nicht mehr selbstbestimmt zu mir nehmen kann.
Mir ist jetzt erst klar geworden, was für intime und selbstbestimmte Vorgänge Essen und Trinken sind. Seit meinem Unfall ist mir durch dieses Angewiesensein auf die Hilfe anderer klar geworden: Man kann eigentlich nicht lernen, wie ein anderer Mensch essen und trinken möchte. Niemand kann dir die Gabel exakt so halten und ihren Inhalt in den Mund geben, wie du allein es getan hast; niemand kann dir ein Getränk so reichen, wie du es selbst zum Mund führen würdest. Das gilt nicht nur für die Reihenfolge und den Winkel, sondern auch für die Mischung auf der Gabel.
Ich zum Beispiel bin ein ,Kombiniererâ â ich mag gern Kartoffelbrei mit Spinat in einem Mischungsverhältnis von 1/3 zu 2/3. Andere sind ,Trennerâ und essen alles schön nacheinander. Im Prinzip könnte ich wohl der Person, die mir hilft, erklären, in welchem Mischungsverhältnis ich gerne was auf der Gabel hätte. Aber das ist einfach überfordernd.
Wenn die Tagesform stimmt und die Muskulatur auf angemessener Betriebstemperatur ist, kann ich mithilfe einer das Handgelenk stabilisierenden Schiene und einer Schlaufe, in der die Gabel befestigt wird, zuvor präpariertes Essen selbst zum Mund führen.
Was es mir einfacher macht, ist, wenn zum Beispiel meine Freunde mir mit groÃer Selbstverständlichkeit Essen und Trinken anreichen, ohne emotionale Barrieren, und wir dabei herumalbern können. Diese Selbstverständlichkeit ist etwas, was das Annehmen von Essen und Trinken für mich leichter macht. So behalte ich trotz meiner unübersehbaren Abhängigkeit zumindest in diesem Bereich eine gewisse Würde. Daraus folgt mein persönlicher Tipp für Menschen, die jemanden pflegen, der viel Hilfe braucht: Nicht so viel fragen, einfach machen, versuchen, der eigenen Empathie, dem Gefühl, der Fantasie und Kreativität vertrauen.â
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So ernüchternd wie die Tatsache, dass ich mich noch nicht mal am Bart kratzen kann, ist die Bilanz meiner Genesung. Seit dem Herbst 2011 gibt es leider sogar Rückschritte. Teile der mit viel Mühen aufgebauten Muskulatur sind wesentlich schwächer geworden. Das Essensbeispiel zeigt, wie stark sich dies auswirkt. Das ist bitter.
Zur gleichen Zeit hatte ich sogar einen manuellen Rollstuhl mit elektronisch unterstützten Rädern, den ich mithilfe von Handmanschetten angetrieben habe. Wenn ich die Reifen berührte, rollte er mit elektrischer Unterstützung los. Damit konnte ich mich langsam, aber beharrlich innerhalb von drei Stunden einmal um den Klinikkomplex bewegen. Mittlerweile schaffe ich es kaum noch 30 Meter weit.
Was ist passiert? Normalerweise bildet sich einmal Erreichtes eigentlich nicht zurück. Ãrzte sagten mir: âWas einmal da ist, verschwindet nicht wieder, natürlich immer
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