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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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wir noch sehr klein waren, und in der Obhut eines Mannes blieben, der sich nicht um uns kümmerte, weil ihm andere Dinge wichtiger waren. Später hinterließ er Rita die Wohnung, in der sie jetzt mit ihrem Mann wohnt; mir vererbte er ein paar Aktien, die ich noch nie angerührt habe. Ein bitteres Gefühl hat er wohl bei uns beiden hinterlassen.
    Bis in unsere Zwanziger hinein waren Rita und ich uns ziemlich nahe gewesen. Obwohl sie schon damals eine heimtückische Despotin war, gab es noch Hoffnung auf Veränderung. Ich nannte sie immer die »Kurstante«, weil sie andauernd neue Sachen ausprobierte: Tai-Chi, Reiki, Ausdruckstanz ...
    Egotrips, die nie zu etwas geführt haben.
    Doch damals fand ich es lustig. Immer hatte sie neue Dinge zu erzählen, und ich hörte ihr gespannt zu, auch wenn ich bezweifelte, dass irgendeins dieser Dinge sie glücklich machen würde.
     
    Ich weiß noch, wie ich sie einmal – ich hatte gerade an gefangen zu studieren – zu einem Wochenendkurs in transzendentaler Meditation begleitete. Der Dozent, ein braun gebrannter Typ um die fünfzig, hatte einen Bauernhof im Ampurdán gemietet, wo wir dem Wunder der Erleuchtung innerhalb eines Wochenendes beiwohnen würden – so versprach es zumindest der Werbeprospekt.
    Ehe ich michs versah, fand ich mich mit rund zwanzig jungen Leuten, allesamt begierig zu erfahren, was es mitdem Dasein auf sich hatte, auf einem verstaubten Dachboden wieder.
    Am Samstag nach dem Frühstück versammelte man sich im Garten, wo der Guru uns einen Vortrag hielt. Er begann damit, uns vor den »falschen Meistern« – mit anderen Worten: die Konkurrenz – zu warnen, und versicherte uns, jeder könne die Erleuchtung erlangen, wenn er es nur wagte, die Augen zu öffnen.
    »Man könnte sogar sagen«, fuhr er salbungsvoll fort, »ihr alle seid bereits erleuchtet, ihr habt es nur noch nicht gemerkt.«
    Bis dahin war alles ziemlich normal. Dann begaben wir uns in einen Saal, in dem es dicke Teppiche und Kissen gab. Er erklärte uns den Lotossitz und einige andere Stellungen, wies uns auf die richtige Atmung und die korrekte Rückenhaltung hin.
    Mit ernster Stimme verkündete er uns: »Jede Sekunde, die ihr es schafft, euren Geist ganz frei zu machen, ist ein Spalt in eurem Panzer, und dieser Spalt lässt Zärtlichkeit und Klarheit fließen.«
    Der Meister erwies sich tatsächlich als ein Mann voller Liebe und Zärtlichkeit, vor allem gegenüber den gut gebauten Frauen, denen er unentwegt half, ihre Haltung zu korrigieren. Besonderen Wert legte er darauf, dass sie beim Atmen den Brustkorb richtig anhoben, was er intensiv begutachtete, indem er ihnen von hinten die Hände auf die Brüste legte. Der Gebrauch von Büstenhaltern war während der Meditation untersagt, denn sie »schränken den Atem des Lebens ein«.
    Ich schien ein vorzüglicher Schüler zu sein, denn um mich brauchte er sich überhaupt nicht zu kümmern. Am Samstagabend gab es einen großen Aufruhr, alsunser Guru eins der jüngeren Mädchen für die tantrische Initiation auswählte. Das Mädchen, das während der Meditation beständig seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, wies dieses Privileg mit der Begründung zurück, sie fühle sich noch nicht bereit. Der Meister bekam einen Tobsuchtsanfall und machte sie vor der ganzen Gruppe lächerlich.
    »Solange du dein kleinbürgerliches Denken nicht ab legst«, sagte er, »gibt es für dich keine Hoffnung auf Befreiung.«
    Ich vermutete, das Einzige, was er tatsächlich befreien wollte, waren die entsprechenden Körperteile aus Slips und BHs, aber das behielt ich für mich.

FRANZ UND MILENA
    Am ersten Tag nach den Ferien stand ein Seminar zu zeitgenössischer Literatur für das vierte Studienjahr auf meinem Programm. Es war eine sympathische Gruppe von acht Studenten, die recht flüssig Deutsch lasen, wenn man sie auch nur schwer dazu überreden konnte, ein ganzes Buch durchzulesen.
    Da es sich um ein reines Einführungsseminar handelte, widmeten wir jedem Autor zwei Wochen. Ich stellte kurz Leben und Werk vor und verteilte dann Referatsthemen, so wie es in Deutschland in den geisteswissenschaftlichen Fächern üblich ist. In Spanien fällt es den Studenten schwer, Eigeninitiative zu entwickeln. Die Mehrheit bevorzugt den traditionellen Frontalunterricht, bei dem der Dozent seinen Monolog hält und die Studenten nicht vom Papier aufblicken.
    An diesem Tag wollte ich Kafka vorstellen, einen Autor, der viele abschreckt, weil man seine Werke für kompliziert

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