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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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wie. Vielleicht war es das Beste, mich von meinen romantischen Fantasien zu verabschieden und die Angelegenheit ein für alle Mal zu vergessen.
    Bevor ich ihn verließ, erzählte ich Titus noch, wie wenig Lust ich auf den Besuch bei meiner Schwester hatte.
    »Für solche Fälle kenne ich eine Zauberformel«, hatte er gesagt. »Vertrau einfach aufs Gegenteil. Jedes Mal, wenn du auf jemanden wütend bist, folgst du diesem Rat. Tu einfach immer genau das Gegenteil von dem, wonach dir eigentlich ist. Glaub mir, das wirkt Wunder.«
     
    Während ich eine Bäckerei aufsuchte, um einen Königskranz zu kaufen, nahm ich mir vor, Titus’ Methode auszuprobieren – und sei es nur als eine Art Experiment im Kampf gegen die Langeweile.
    Rita und Andrés – meine Schwester und ihr Mann – bildeten ein ebenso perfektes wie destruktives Zweigespann. Er hat sich in der Rolle des wehleidigen Quenglerseingerichtet, sie ist dafür zuständig, mit dem Finger auf die Schuldigen zu zeigen.
    In den fünfzehn Jahren, die sie zusammen sind, habe ich keine einzige fröhliche Szene in diesem Haus erlebt. Ich habe das immer auf den Umstand geschoben, dass sie keine Kinder bekommen konnten, wie sie es sich gewünscht hatten. Inzwischen ist meine Schwester weit über vierzig, und ich nehme an, sie hat sich damit abgefunden, dass sich in ihrem Leben nichts mehr ändern wird. Nicht einmal ihr schlechter Charakter.
    Im Fahrstuhl auf dem Weg nach oben in ihre Wohnung in der Avinguda Diagonal merkte ich, dass mein Nacken nass war von kaltem Schweiß. Es war immer dasselbe, wenn ich meine Schwester besuchte. Die Aussicht, mehrere Stunden dort oben zu verbringen, erzeugte bei mir ein körperliches Unbehagen, noch ehe ich die Wohnung überhaupt betreten hatte. Psychosomatisch nennt man das wohl.
    »Vertrau aufs Gegenteil«, murmelte ich vor mich hin, als ich die Klingel drückte.
    Andrés öffnete mir die Tür. Ein Blick auf seine Leidensmiene und ich bereute bereits, nicht zu Hause geblieben zu sein.
    »Wie geht’s?«, erkundigte er sich.
    Ich wusste genau, dass es ihn nicht interessierte, wie es mir ging. Seine Frage war lediglich ein Einstieg, damit er anfangen konnte zu klagen. Doch anstatt die von ihm erwartete Gegenfrage zu stellen, folgte ich Titus’ Maxime und sagte nur:
    »Ich habe drei Tage mit Grippe flachgelegen. Aber du siehst wirklich fantastisch aus.«
    »Tatsächlich?«, entgegnete er überrascht.
    »Kaum zu glauben, dass sie dich vor zwei Monaten an der Bandscheibe operiert haben«, fuhr ich fort. »Für mich siehst du aus, als wärst du zur Kur gewesen und zehn Jahre jünger wiedergekommen.«
    Mit diesen Worten marschierte ich ins Esszimmer und ließ den perplexen Andrés an der Tür stehen. Das kann lustig werden, dachte ich und musste schmunzeln.
    »Was redest du denn da für einen Quatsch?«, rief mir meine Schwester als Gruß entgegen. »Hast du zu viel getrunken oder bist du hier, um dich über uns lustig zu machen?«
    Wäre ich ein weniger beherrschter Mensch, hätte ich bei diesen Worten den Dreikönigskranz ausgewickelt und ihn ihr ins Gesicht geschleudert.
    Doch ich wollte das Experiment fortsetzen, um zu sehen, wohin es mich führte. Also nahm ich meine Schwester in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
    »Ich hab mich wirklich darauf gefreut, euch zu sehen«, log ich. »Entschuldigt, dass ich keine Geschenke mitgebracht habe.«
    »Seit wann schenken wir uns etwas?«, fragte Rita, während sie mir verdutzt ins Wohnzimmer folgte.
    »Seit heute. Was haltet ihr davon, wenn ich euch dem nächst mal in eins dieser edlen Restaurants einlade?«
    Ich konnte selbst kaum glauben, was ich da sagte, doch jetzt musste ich das Theater bis zum Ende durchziehen. Auf einmal schien die Anspannung aus dem Gesicht meiner Schwester zu weichen und machte einem schüchternen Lächeln Platz.
    »Das ist wirklich sehr nett von dir«, sagte sie, »aber Andrés ist auf Diät und ich bin seit einem Monat Vegetarierin.«
    »Sehr vernünftig«, erwiderte ich. »Das Fleisch heutzutage ist ja sowieso voll mit Hormonen und allem möglichen Mist.«
    »Dass du mir ein Mal nicht widersprichst ...«, staunte sie und ging zurück in die Küche, um sich um das Essen zu kümmern.
    Ich setzte mich auf die Couch neben Andrés, der mit einem Glas Wasser in der Hand wie hypnotisiert die Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Ab und an warf er mir einen verstohlenen Blick zu, als fürchte er, ich sei tatsächlich betrunken und könnte etwas anstellen. Nach

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