Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
einigen Minuten schien er diese Befürchtung abgelegt zu haben und begann ein Gespräch.
»Wirklich schlimm, wie es um die Welt heute steht. Wo soll das bloß noch alles hinführen?«
»Man muss so schnell wie möglich etwas unternehmen«, erklärte ich, ohne eine Ahnung zu haben, was ich eigentlich meinte.
»Du meinst, da ist noch was zu machen?«, rief Andrés überrascht aus.
»Natürlich. Zuerst sollte man mal den Verantwortlichen für diese Sendung da feuern. Und einen anderen einstellen, der für bessere Nachrichten sorgt.«
In diesem Augenblick betrat Rita das Zimmer und stellte die vegetarische Lasagne auf den Tisch.
»Darf man mal fragen, was mit dir los ist?«, erkundigte sie sich misstrauisch. »Du verhältst dich ausgesprochen sonderbar heute.«
Unter normalen Umständen hätte ich mich an den Tisch gesetzt und wir hätten in stummer Eintracht gegessen und dabei die Nachrichten geschaut. Doch Titus’ Rat hatte mich angespornt: Ich lobte jeden einzelnenGang, den sie auftrug, erkundigte mich nach Einzelheiten aus dem Leben von Schwester und Schwager und gab selbst ein paar Anekdoten zum Besten.
»Mir ist eine Katze zugelaufen«, sagte ich zwischen zwei Bissen. »Erst dachte ich, sie gehört Titus, aber wie es scheint, ist sie herrenlos.«
»Wer ist Titus?«, fragte Andrés, während er zur Fernbedienung griff und den Fernseher abstellte.
Bevor ich antworten konnte, fiel mir Rita ins Wort: »Das finde ich sehr gut, dass du jetzt eine Katze hast. Das bringt gute Schwingungen, Katzen absorbieren negative Energie.«
Normalerweise hätte ich darauf mit einem ironischen Kommentar geantwortet, etwa: »Deshalb dachte ich, ich schenke sie dir«, doch stattdessen lenkte ich das Gespräch in eine völlig andere Richtung. Ich erinnerte meine Schwester daran, wie wir vor dreißig Jahren unsere Samstagnachmittage verbracht hatten, und fragte sie auch, ob sie etwas von Gabriela wüsste.
»Ich kann mich nicht mal erinnern, dass es ein Mädchen mit diesem Namen gegeben hat«, sagte sie. »Da waren immer so viele Kinder aus dem Barri Gòtic, die wir nicht kannten.«
»Sie hatte sich zusammen mit mir unter einer Treppe versteckt. Ich glaube, du warst es sogar, die uns entdeckt hat.«
»Und daran soll ich mich erinnern? Außerdem, wenn sie unter einer Treppe gesessen hat, war sie wahrscheinlich ein böser Geist.«
»Ich dachte, du glaubst nicht mehr an dieses ganze übersinnliche Zeug.«
»Weißt du, warum die Leute Angst haben, unter einerLeiter durchzugehen? Es gibt eine Stelle in der Bibel, glaube ich, wo sich der Teufel unter einer Treppe versteckt.«
Das Gespräch nahm noch manche seltsame Wendung, bis wir – keine Ahnung, wie – bei der Heilung mit Hilfe von Kerzen angelangt waren, einer Wissenschaft, mit der sich meine Schwester neuerdings befasste. Bevor meine gute Laune in Gefahr geriet und ich mich in einen Streit verwickeln ließ, stürzte ich meinen Kaffee hinunter und erklärte den Höflichkeitsbesuch für beendet.
»Leg dich besser wieder ins Bett«, sagte Rita mit spöttischer Miene. »Ich glaube, die Grippe ist dir zu Kopf gestiegen.«
ERLEUCHTUNG AN EINEM WOCHENENDE
Der Dreikönigsnachmittag hielt die letzten Aufsätze meiner Studenten für mich bereit, die nicht einmal den Namen Werther richtig geschrieben hatten. Manche ließ ich aus Mitleid bestehen, andere, um sie im kommenden Semester nicht wieder in meinem Kurs zu haben. Ich war pragmatisch geworden.
Die Arbeit war schnell erledigt, und ich steckte die Hefte in meine Aktentasche.
Da es bereits dämmerte, schaltete ich die Stehlampe ein. Ich wollte noch ein wenig im Rheingold’schen Wörterbuch stöbern, bevor es Zeit fürs Abendessen war. Als Erstes stolperte ich über das heute etwas aus der Mode gekommene Wort Weltschmerz: » romantische Schwermut, die vor allem privilegierte junge Leute befällt«.
Dieses Wort schien Goethes Helden auf den Leib geschrieben zu sein. Der Autor des Wörterbuchs hatte diese Definition noch präzisiert: »Die an Weltschmerz Leidenden teilen offenbar ein Merkmal: Es handelt sich häufig um Söhne (seltener Töchter) reicher Eltern, die sich nicht um ihren Lebensunterhalt sorgen müssen und frei sind, sich ihrem existenziellen Schmerz hinzugeben.«
Die Beschreibung erinnerte mich an meine SchwesterRita, die, obwohl alles andere als romantisch veranlagt, bereits als Jugendliche die Tendenz zum Weltschmerz an den Tag gelegt hatte.
Vielleicht lag es daran, dass wir unsere Mutter verloren haben, als
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