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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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hält. Das ist jedoch ganz und gar nicht der Fall. Zwar beschreibt Kafka höchst bedrückende und beklemmende Szenarien, aber er hat einen außerordentlichen Sinn für narrative Spannung und versteht es, den Leser von der ersten Zeile an zu fesseln.
    Um diese These zu belegen, hatte ich von zwei seiner wichtigsten Werke, nämlich Die Verwandlung und Der Prozeß , jeweils den ersten Satz an die Tafel geschrieben:
     
    Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen er wachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.
     
    Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
     
    Bevor ich die Referatsthemen unter den Studenten verteilte, sagte ich kurz ein paar Worte zu Kafkas Biografie. Allzu Bekanntes wie die Probleme mit seinem Vater, dem er einen hundert Seiten langen bitteren Brief geschrieben hatte, der dann von seiner Mutter abgefangen worden war, sparte ich aus.
    Dafür erzählte ich ein bisschen Klatsch und Tratsch. Offenbar hatte es ein Onkel von ihm in Madrid bis zum Generaldirektor einer Eisenbahngesellschaft gebracht. Eine weitere Anekdote war, dass Kafka jeden Tag viereinhalb Stunden Mittagsschlaf hielt oder dass er gegen Ende seines Lebens davon träumte, ein Restaurant in Tel Aviv zu eröffnen und dort selbst als Kellner zu arbeiten.
    Um die Studenten zu fesseln, muss man mit solchen Geschichten aufwarten.
    Die letzten zwanzig Minuten widmete ich Kafkas Briefwerk. Neben den Romanen, die er nicht vollendet hat, sind Hunderte von Briefen erhalten, die Kafka an seine Geliebten geschickt hatte; die Schönsten sind wahrscheinlich die an Milena Jesenská, die einige seiner Erzählungenins Tschechische übersetzt hat. Obwohl sie im Gegensatz zu ihm nicht jüdisch war, wurde Milena nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis im Konzentrationslager Ravensbrück interniert, wo sie 1944 starb. So gesehen war es ein Glück für Franz, dass er zwanzig Jahre zuvor an Tuberkulose gestorben war.
    Die Romanze zwischen den beiden war zum Scheitern verurteilt, unter anderem deshalb, weil Milena verheiratet war, was sie jedoch nicht daran hinderte, sich mehrmals mit ihm zu treffen, und Kafka nicht davon abhielt, ihr Briefe wie den folgenden zu schreiben:
     
    Liebe Frau Milena,
    der Tag ist so kurz, mit Ihnen und sonst nur mit ein paar Kleinigkeiten ist er verbracht und ist zu Ende. Kaum daß ein Weilchen Zeit bleibt an die wirkliche Milena zu schreiben, da die noch wirklichere den ganzen Tag hier war, im Zimmer, auf dem Balkon, in den Wolken.

EIN KOMISCHER KERL
    Kafkas Briefromanzen hatten mich wohl romantisch gestimmt; als ich das Institut verließ, beschloss ich jedenfalls, den Ort des Geschehens aufzusuchen.
    Es war ein Uhr mittags, wie an dem Tag unserer Begegnung, und die Kreuzung war nur wenige Minuten von der Universität entfernt. Die Carrer Pelai befand sich auf der anderen Seite des Platzes. Dort war der Eisenbahnladen, wo die Spielzeuglok das Schaufenster auf- und abhetzte wie ein wildes Tier im Käfig. Genau gegenüber stand die Ampel, an der ich sie gesehen hatte. Das Satori -Territorium.
    Doch diesmal fühlte ich nichts. Die Straße, auf der jetzt Busse, Autos und Motorräder vorbeizischten, war nur eine Straße wie jede andere.
    Ohne Gabriela sieht es hier auch nicht anders aus als überall, dachte ich bei mir und musste über meine eigene Dummheit lachen.
    Auf der anderen Straßenseite gab es ein kleines Café mit ein paar Tischen draußen. Womöglich war es keine schlechte Idee, dort ein Weilchen auszuharren für den Fall, dass sich das Wunder wiederholte. Nur weil ein Mensch an einem bestimmten Tag zu einer bestimmtenZeit eine bestimmte Straße entlanggegangen ist, heißt das nicht, dass er es später noch einmal tun wird. Aber vermutlich ist die Wahrscheinlichkeit, ihn dort wieder zu treffen, höher als an jedem anderen Ort oder zu jeder anderen Zeit.
    Während ich an dem einzigen freien Tisch Platz nahm, fiel mir der Witz von dem Betrunkenen ein, der, als er nachts nach Hause kommt, seine Schlüssel unter einer Laterne sucht – nicht weil er sie dort verloren hätte, sondern weil man dort besser sieht. Meine Suche nach Gabriela schien mir in diesem Augenblick ähnlich absurd. Aber vielleicht wollte ich auch nur ein paar Momente länger träumen.
    Zwar schien die Sonne, dennoch war es erstaunlich, dass mitten im Winter draußen zwei von drei Tischen besetzt waren. An einem saß ein

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