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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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Dunkelheit gewöhnt hatten, tastete ich mich unsicher zwischen den Möbeln hindurch bis zu einer Kommode. Die Schubladen und Fächer enthielten verschiedene Relikte aus meiner Kindheit: Schulzeugnisse, alte Comichefte, allerhand Spielzeug und Plunder. Ich fand auch eine alte Metalltaschenlampe, die zu meinem großen Erstaunen aufleuchtete, als ich auf den Knopf drückte.
    In diesem – im wahrsten Sinne des Wortes – neuen Licht betrachtete ich noch mehr Gegenstände, die so manche wehmütige Erinnerung zutage förderten: Hefte mit Schönschreibübungen, einen Zirkel, ein Gänsespiel, von meiner Schwester aus Plastikgarn geflochtene Armbänder ... In der letzten Schublade fand ich ein paar alte Musikzeitschriften und ein Fotoalbum, das ich mich nicht erinnern konnte, je gesehen zu haben. Ich schlug es auf und beleuchtete die erste Seite, von der mir ein derart strenges Porträt meines Vaters entgegenblickte, dass ich das Album vor Schreck beinahe gleich wieder zurückgelegt hätte.
    Doch die Neugier siegte, und ich blätterte weiter. Die ersten Seiten enthielten verschiedene Bilder meines Vaters,Fotos von seinem Studienabschluss, von einer Londonreise, mit meiner neugeborenen Schwester auf dem Arm.
    Die Bilder riefen ein bitteres Gefühl in mir hervor, das sich nach einigen Minuten mit einem leicht schlechten Gewissen mischte. Auf dem Boden der Kammer sitzend, wie ich es als Kind oft getan hatte, dachte ich daran, wie wenig Beachtung ich dem Tod meines Vaters geschenkt hatte. Ich war damals knapp zwanzig gewesen und war verletzt durch eine Kindheit voll unerklärlichem Schweigen.
    Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte er gänzlich aufgehört, sich um uns zu kümmern, und sich darauf beschränkt, für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Er glaubte, damit sei seine Schuldigkeit getan. Meine Schwester reagierte darauf mit allen möglichen Überspanntheiten und Exzessen, während ich ebenfalls in Schweigen und Gleichgültigkeit verfiel.
    Damals begann ich mich vor der Welt zurückzuziehen und mir einen Panzer zuzulegen. Mein Herz war durch all den Groll wie von einer Kalkschicht umschlossen, die mich genauso unzugänglich machte wie ihn. Ich zog mich in mich selbst zurück, um mich vor einer Welt zu schützen, die mir feindlich erschien. Auch die Liebe will gelernt sein, und ich war vollkommen unerfahren in dieser Kunst.
    Erst nachdem mein Vater gestorben war, begann ich allmählich, ihm zu verzeihen. Ich begriff, dass er einfach das getan hatte, was ihm möglich gewesen war. Wie Hesse sagt, geht jeder Mensch auf seinem Weg voran, wie er es kann, und jeder hat seinen eigenen Weg. Ich hatte kein Recht, mehr von ihm zu verlangen, als er geben konnte.
    Wie leicht es ist, sich mit den Toten zu versöhnen, dachte ich, während ich das Fotoalbum durchblätterte.
    Ich entdeckte mich als kleinen Jungen von drei Jahren, als Fußballspieler verkleidet. Auf der Seite gegenüber ein Schwarzweißfoto von meiner Schwester beim Ballettunterricht. Sie muss etwa acht gewesen sein und hatte vor einem langen Spiegel ein Bein auf eine Stange gelegt. Hinter ihr war eine lange Reihe von Mädchen eifrig bemüht, die Position ein- und den Kopf oben zu halten.
    Dann sah ich sie.
    Mir stockte der Atem. Hinten im Raum – wie ein Geist, der noch einmal aus der Vergangenheit zurückkehrt – stand Gabriela. Mit dem Bein auf der Stange hob sie, wie die anderen Mädchen, den Arm zum Bogen. Doch im Gegensatz zu den anderen, die vor Anstrengung starr ins Leere blickten, schaute sie direkt in die Kamera. Sie lächelte breit, als würde ihr die Übung gar nicht schwerfallen.
    Behutsam löste ich das Foto aus dem Album. Es war dasselbe kleine Mädchen, das mir unter der Treppe begegnet war. Die Gabriela von heute hatte sich die engelhafte Ausstrahlung der kleinen Ballerina erhalten; vielleicht war sie deshalb die Frau meines Lebens, auch wenn sie noch nichts davon wusste.
    Ich hielt das Foto in der Hand, drückte – wie ein verliebter Teenager – einen sanften Kuss darauf und steckte es in die Tasche.

BAHNSTEIGMENSCHEN
    Ich beeilte mich, so schnell wie möglich zu dem Straßencafé zu kommen; ich musste mit jemandem sprechen, und Valdemar schien mir der geeignete Gesprächspartner zu sein. Doch diese Hoffnung löste sich schon bald in Luft auf, denn kaum hatte ich mich auf dem Stuhl neben meinem neuen Freund niedergelassen, fing er auch schon an zu reden.
    »Siehst du den Mann in schwarz, der da am Tresen sitzt?«, fragte er in geheimnisvollem Ton

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