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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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wieder zu mir. Mein einer Arm hing leblos an mir herunter, meine Lippe war gespalten, und ich hatte keine Chance, wieder zu dem Weg zu gelangen, der zum Auto führte. Davon trennte mich eine Felswand von dreißig Metern Höhe. Das Einzige, was ich machen konnte, war am Ufer entlangzugehen und zu hoffen, dass ich irgendwo auf Menschen treffen würde. Ich vergaß den Schmerz und folgte dem Flusslauf. Nach circa fünfzehn Stunden gelangte ich an einen riesigen Wasserfall, den ich unmöglich hätte überqueren können. Die Nacht brach an und die Temperatur fiel auf unter minus zehn Grad. Eine Nacht im Freien hätte ich nicht überlebt. Am nächsten Morgen wäre ich tot und tiefgefroren gewesen. Ich war völlig in Panik, als ich plötzlich von Weitem ein Rettungsboot sah, das nach mir suchte. Ich schrie wie ein Wahnsinniger, aber der Lärm des Wasserfalls übertöntemich. Es war schon fast ganz dunkel, und das Boot entfernte sich. Da hatte ich eine wirklich geniale Idee ...«
    »Was denn für eine Idee?«, fragte ich gespannt.
    »Es war so simpel, dass es mir einfach nicht früher eingefallen war. Wie durch ein Wunder war meine Kamera heil geblieben, also löste ich ein paarmal den Blitz aus. Sie sahen das Licht und kamen, um mich zu retten. Sechs Monate hat meine Genesung gedauert. Es war unglaublich: Solange ich ums Überleben gekämpft hatte, hatte ich keinerlei Schmerz gespürt, aber sobald ich im Krankenhaus ankam, hörte ich nicht mehr auf zu schreien. Sie mussten mich sogar betäuben.«
    »Das ist ganz normal«, warf ich ein. »Als du auf dein Ziel konzentriert warst, hattest du ordentlich Adrenalin, wie eine Katze, die auf ihre Beute lauert. Aber ... was hat das mit dem Bahnsteig in der Metro zu tun?«
    »Als ich dann nach Barcelona zurückkam, hatte ich immer wieder klaustrophobische Anfälle. Solche Sachen können erst Monate nach einem Trauma auftreten. Ich hatte Panik, unter der Erde eingeschlossen zu sein. Das Problem war, dass ich mit der Metro zur Uni fahren musste, aber ich fühlte mich außerstande.«
    »Und dann bist du zum Psychiater gegangen.«
    »Genau. Der meinte, ich bräuchte keine Medikamente, und entwarf für mich eine Therapie der schrittweisen Konfrontation. Das ist sehr hilfreich beim Kampf gegen Phobien. Wie der Name schon sagt, geht es darum, sich schrittweise dem auszusetzen, wovor man Angst hat, bis sich das Trauma allmählich auflöst und man die Phobie überwindet. Also sollte ich zu einer belebten Metrostation gehen und mich auf dem Bahnsteig auf eine Bank setzen. Das war alles. Zu Anfang nicht mehr als fünf Minuten,denn länger hielt ich es unter der Erde nicht aus. Die Dauer wurde dann schrittweise erhöht, bis ich schließlich eine halbe Stunde geschafft habe. An dem Tag nahm ich die U-Bahn und fuhr zu meinem Therapeuten, um ihm zu sagen, dass ich geheilt war.«
    »Happy End.«
    »Fast, denn damals habe ich zum ersten Mal die dunkle Seite des Mondes gesehen, allerdings bei den Menschen. Wenn ich das nicht entdeckt hätte, wäre heute alles leichter für mich.«
    »Aber was hast du denn entdeckt?«
    »Etwas ganz Unheimliches: Ich stellte fest, dass manche Leute niemals in die U-Bahn einstiegen. Sie waren einfach da. Unter normalen Umständen hätte ich das nie entdeckt, denn normalerweise steigt man ja früher oder später selbst ein.«
    »Vielleicht war ihnen kalt und sie wollten sich aufwärmen.«
    »Fehlanzeige. Es war Sommer und draußen herrschte eine Affenhitze. Und die Klimaanlage funktionierte nie in diesem Bahnhof. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemandem Spaß macht, da unten rumzulungern.«
    »Und was, glaubst du, machten diese Leute dann da?«
    »Das habe ich den Psychiater auch gefragt. Ich berichtete ihm von meiner Entdeckung. Und weißt du, was er meinte?«
    »Nein.«
    »Vielleicht machen sie eine Therapie, wie du.«

ALICE IN DEN STÄDTEN
    Als ich vor meiner Haustür stand, schwirrte mir immer noch der Kopf. Valdemar hatte großes Talent zum Geschichtenerzählen. Besser gesagt flocht er gerne eine Geschichte in eine andere ein, ständig machte er irgendwelche Klammern auf und vergaß sie dann wieder zu schließen. Zu jedem Erlebnis, von dem er erzählte, hatte er eine eigene Theorie parat, was dann wieder Raum für neue Geschichten und neue Theorien bot. Und so ging es endlos weiter, oder jedenfalls beinahe endlos.
    Kaum hatte ich meine Haustür aufgeschlossen, merkte ich, dass ich trotz der Kälte nicht die geringste Lust hatte, mich in meiner Wohnung zu

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