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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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verkriechen. Dort erwarteten mich lediglich eine Katze und jede Menge Arbeit, sowohl für die Uni als auch für Titus.
    In einem plötzlichen Anfall von Trotz zog ich die Tür wieder zu und drehte mich um. Ein Kinobesuch schien mir eine gute Idee zu sein. Ich war bereit, mich von jedem beliebigen Film verführen zu lassen, solange es nicht irgendein surrealistisches Zeug war. Dafür hatte ich ja Valdemar.
    Zu meiner Überraschung wurde in einem der Kinos Alice in den Städten gezeigt, mein Lieblingsfilm vonWim Wenders – ein echtes Juwel in Schwarzweiß aus dem Jahr 1973, lange bevor er mit Paris Texas und Der Himmel über Berlin bekannt wurde.
    Alice in den Städten ist ein Roadmovie ganz besonderer Art. Der Protagonist Philipp Winter ist ein deutscher Journalist, der auf der Suche nach Themen für sein Buch durch die USA reist. Da er seinen Termin nicht einhält, kündigt ihm sein Verleger, sodass Philipp sich gezwungen sieht, nach Deutschland zurückzukehren. Auf dem Flughafen lernt er eine Deutsche kennen, die ihre neunjährige Tochter bei sich hat. Die Frau macht sich aus dem Staub und vertraut ihm ihre Tochter an, wobei sie schriftlich versichert, die beiden in Amsterdam wiederzutreffen. Natürlich taucht die Mutter nie dort auf. Philipp mietet ein Auto, um die einzige Angehörige zu suchen, die die kleine Alice in Deutschland hat: ihre Großmutter. Das Mädchen weiß weder, wie die Großmutter heißt, noch, in welcher Stadt sie wohnt. Sie haben nur ein Foto von einem Haus, das aussieht wie Millionen von anderen Häusern in Deutschland. Es könnte überall sein. Sie brechen zu einer verzweifelten Reise auf und zeigen in jeder Stadt vergeblich ihr Foto vor.
     
    Ich verließ das Kino tief bewegt, vielleicht weil ich mich auch immer gefühlt habe wie Alice in den Städten: ein Gestrandeter, der hofft, irgendwo ein bisschen Wärme zu finden.
    Auf dem Heimweg kehrte ich in eins der zahlreichen libanesischen Restaurants von Gràcia ein. Ich bestellte eine Flasche Wein und gab mich der Illusion hin, ich sei Philipp Winter. Dieser Typ gefiel mir, denn er hatte ein klares Ziel: die Großmutter zu finden, um das Mädchenloszuwerden. Meine eigene Geschichte war da um einiges undurchsichtiger.
     
    In der Dunkelheit meines Wohnzimmers sah ich den Anrufbeantworter blinken. Vermutlich eine Umfrage oder ein Werbeanruf.
    Ich hob ihn mir für später auf und begann mein abendliches Ritual zu vollziehen. Alles folgt einer festen Ordnung: Ich ziehe meinen Schlafanzug an, gehe dann ins Bad und putze mir die Zähne, während in der Küche das Wasser für den Tee kocht. Diesen trinke ich dann im Bett und lese dabei zum Einschlafen ein Buch. Mehr als vier oder fünf Seiten schaffe ich selten.
    Diesmal gab es eine kleine Abweichung. Nachdem ich mir die Zähne geputzt und bevor der Tee fertig gezogen hatte, ging ich zum Anrufbeantworter, um die Nachricht abzuhören. Die Stimme war dunkel und sehr klar. Die Nachricht schien mir aus einer anderen Welt zu kommen.
     
    Hallo. Die Barenboim-CD ist da. Du kannst sie abholen kommen, wenn du willst, okay?

DAS GEFÄNGNIS DES HERZENS
    Ich habe ein Ass im Ärmel, das mein Schicksal verändern wird, dachte ich, als ich am nächsten Morgen aus dem Bett sprang.
    Es war sieben Uhr morgens. Ich hätte noch fast eine Stunde liegen bleiben und gemütlich vor mich hin dösen können. Doch ich strotzte nur so vor Energie und wollte den Tag so bald wie möglich beginnen.
    Ehe ich mich unter die Dusche stellte, drückte ich noch einmal die Taste des Anrufbeantworters, um Gabrielas Stimme zu hören. Am Abend vorher hatte ich die Nachricht vor dem Schlafengehen noch mehrmals abgespielt, mit dem Gefühl, ich hätte mit diesem kleinen Ausschnitt ihrer Stimme ein Stückchen von ihr selbst für immer bei mir.
    Auch im Licht des neuen Tages erschien mir ihre Stimme ganz hinreißend. Sie war ein wenig rau und zugleich sanft. Schade, dass sie nur von einer CD sprach. Aber das konnte sich jeden Moment ändern, denn ich hatte ein Ass im Ärmel. Zumindest redete ich mir das ein.
    Unter dem heißen Wasserstrahl schloss ich die Augen und versuchte mir die Szene unter der Treppe in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Dank des Fotos fielmir das jetzt sehr viel leichter: Ich konnte die Anordnung der Sommersprossen auf ihren Wangen und das Lächeln sehen, das so schöne Grübchen in ihr Gesicht zauberte. Ganz deutlich konnte ich die leichte Berührung ihrer Wimpern an meiner Wange spüren.
    Nachdem ich diese

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