Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
der Studentin glühten vor Scham. Ich war zu weit gegangen und musste mich entschuldigen.
»Das war ein Scherz, bitte nicht zu ernst nehmen. Kannst du uns den entsprechenden Abschnitt mal vorlesen?«
Die Studentin gewann ihre Haltung zurück und begann – in perfekter deutscher Aussprache – vorzutragen, wie Goethe sich auf seinen Reisen durch Italien gefühlt hatte:
Er glaubte, täglich eine neue Schale abzuwerfen, ja eine Veränderung bis aufs innerste Knochenmark zu erfahren.
»Du hast recht«, gab ich zu, »da ist etwas ganz Ähnliches gemeint. Ich nehme an, jeder Mensch muss früher oder später seine Schale knacken. Was bedeutet dieses Bild für euch?«
Es folgte das übliche Schweigen, wie immer, wenn ich vom Drehbuch abwich. Die meisten Literaturstudenten hassen es, selber zu denken; sie suchen die Antworten lieber in Büchern. Ich schaute einen schreckhaften Burschen an, der selten den Mund aufmachte. Er zuckte mit den Schultern.
Zu seinem Glück meldete sich Fräulein Neunmalklug noch einmal zu Wort: »Hesse spricht davon, die alte Haut abzustreifen.«
»Bravo. Und was für eine Haut meint er da?«
Ein Aufblitzen hinter ihren Brillengläsern verriet eine Mischung aus Stolz und Empfindsamkeit.
»Die der Seele«, antwortete sie.
DAS LEBENSALBUM
Bis zum Nachmittag hatte ich frei und überlegte, was ich mit meiner Zeit anstellen könnte. Ich konnte in die Rolle von Francis Amalfi schlüpfen, meinen Unterricht vorbereiten oder Titus besuchen.
Der Gedanke, den Vormittag inmitten von Kranken und hysterischen Angehörigen zu verbringen, behagte mir gar nicht, und ich entschied mich für eine ganz andere Option, die mir spontan in den Sinn kam, nämlich noch einmal meine Schwester zu besuchen. Um diese Zeit war sie gewöhnlich zu Hause, seit sie vor Kurzem wegen einer mysteriösen Krankheit ihren Job aufgegeben hatte.
Ich wollte meinen am Dreikönigstag eingeschlagenen Weg weiterverfolgen, sagte mein persönliches Mantra auf – tu immer das Gegenteil – und hielt ein Taxi an.
Ich nannte die Adresse und betrachtete die breiten Schultern des Taxifahrers, seine grauen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare. Im Rückspiegel konnte ich seine Augen erkennen. Zweifelsohne war das derselbe Typ, der mir das mit den verlorenen Briefen erzählt hatte.
Ohne Vorwarnung fragte ich ihn: »Wie groß ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal denselben Taxifahrer erwischt?«
»Eins zu zehntausend, so viele Lizenzen wie es in Barcelona gibt. Aber vorkommen kann es. Als ich anfing, hatte ich an einem Tag dreimal dieselbe Frau im Wagen, die machte eine Shoppingtour. Na ja, um ehrlich zu sein, kann man das dritte Mal nicht wirklich zählen: Ich hatte am Ausgang einer Parfümerie auf sie gewartet, weil ich mir schon dachte, dass da eine Nummer drin sein könnte.«
»Eine Nummer?«, fragte ich, ich begriff nicht, was er meinte.
»Na ja, sie stieg wieder ein und tat, als würde sie mich nicht erkennen. Ich frage also: ›Wo soll ich Sie hinbringen?‹, und sie antwortete: ›Ins Bett.‹ Also, die Beule in der Hose hat mir damals fast das Taxameter gesprengt.«
Der Portier teilte mir mit, dass Rita das Haus verlassen habe, aber sicher bald zurück sein würde.
In letzter Zeit ist auch kein Mensch mehr zu Hause, dachte ich und beschloss, in der Wohnung auf sie zu warten.
Ich öffnete mit dem Schlüssel, den ich für Notfälle hatte, die Tür und wurde überwältigt von dem Patschuli-Geruch, der schon immer in dieser Wohnung gehangen hatte. Als wir noch mit meinen Eltern dort wohnten, war er mir nicht aufgefallen, doch heute war das Aroma einer unglücklichen Kindheit nicht zu leugnen.
Zuerst dachte ich daran, den Fernseher anzuschalten, wie Andrés es tut, sobald er die Wohnung betritt. Doch mit dem Hundegesicht meines Schwagers vor Augen überlegte ich es mir anders und nutzte stattdessen die Gelegenheit, ungestört in der Wohnung herumzustöbern.
Wohn- und Schlafzimmer wurden ständig renoviert und waren insgesamt uninteressantes Terrain. Auch in der Küche gab es nichts Bemerkenswertes, im Kühlschrank fand ich lediglich ein paar Biosäfte und ein Malzbier, das widerlich schmeckte.
Schließlich landete ich in einer Art Abstellkammer, einem langen, schmalen Zimmer voller Möbel, die mit weißen Laken abgedeckt waren und aussahen wie Gespenster. Offenbar war der Raum lange nicht betreten worden, denn die Glühbirne war durchgebrannt, und es roch nach Staub.
Als meine Augen sich an die
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