Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
und deutete leicht mit dem Fuß in das Innere des Lokals.
Aus dem Augenwinkel warf ich einen Blick auf den Typen an der Bar. Es war ein junger Mann im Anzug mit rötlichem Haar, der soeben einen Schluck aus seinem Bierglas nahm.
»Ja. Wer ist das?«
»Ich weiß es nicht, aber ich wüsste es gern.«
Einen Moment lang überlegte ich, ob sich Valdemar womöglich von dem Mann angezogen fühlte, doch ich zerstreute diesen Verdacht sogleich.
»Dieser Mann ist ein großes Rätsel«, fuhr er fort. »Was soll denn an dem rätselhaft sein? Das ist ein Typ, der in einer Bar an der Theke sitzt und ein Bier trinkt.«
»Danach sieht es aus, aber vergiss nicht, dass jeder Mensch auch eine dunkle Seite hat, genau wie der Mond. Du wirst es gleich verstehen. Hast du eine Uhr?«
Ich krempelte den Ärmel hoch, um ihm meine Uhr hinzuhalten. Valdemar nickte zustimmend.
»Also pass auf: Der Typ wird um exakt 13.24 Uhr vom Tresen aufstehen. Dann wird er durch diese Tür hinauskommen und dabei ein Lied summen.«
Ich schaute auf das Zifferblatt meiner Uhr: Es war 13.21 Uhr. Zwar hatte ich keine Ahnung, was das alles sollte, aber ich war doch neugierig, ob Valdemar zum Hellseher taugte. In gespanntem Schweigen warteten wir, dass der Minutenzeiger sich vorwärts bewegte und sich Valdemars Vorhersage bestätigen oder als falsch erweisen würde.
Tatsächlich legte der rothaarige Typ um 13.24 Uhr eine Münze auf die Theke und verließ summend das Café. Verblüfft sah ich Valdemar an.
»Woher wusstest du das? War das einer deiner Schachzüge?«
»Nein«, lachte er in seinen Bart hinein. »In diesem Fall war es reine Beobachtung. Ich komme schon seit Monaten hierher, und dieser Typ macht jeden Tag exakt dasselbe. Egal wann er kommt, er bleibt immer genau siebzehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger. Dann geht er. Ich habe die Zeit gestoppt.«
Schwer zu sagen, dachte ich, wer hier der größere Spinner ist, der Rothaarige oder mein bärtiger Freund. Trotzdem fragte ich weiter: »Und weißt du auch, warum er das macht?«
»Woher soll ich das wissen?«, fuhr er mich an. »Ich bin Physiker und konstatiere nur die Fakten. Die sind ansich schon ziemlich verwirrend. Wenn du mal genauer darauf achtest, was um dich herum vorgeht, wirst du feststellen, dass du in einer Welt voller Zeichen lebst, die du kein bisschen verstehst. Und ich kann dir versichern, das ist alles andere als beruhigend.«
»Wie der Gast mit den siebzehn Minuten.«
»Das ist noch gar nichts. Eine Bagatelle im Vergleich zu dem, was ich sonst noch weiß und lieber nie gewusst hätte.«
Diese Worte erinnerten mich an sein Vorwort zu Die dunkle Seite des Mondes , das zum ersten Mal nicht auf dem Tisch lag. Unter dem Stuhl hatte er einen Rucksack, also nahm ich an, dass das Manuskript darin war.
»Was hast du denn entdeckt?«, fragte ich.
»Angefangen hat alles in der Metro. Ich saß dort jeden Nachmittag auf dem Bahnsteig, wie der Arzt es mir verordnet hatte.«
»Wie bitte? Was soll das denn für ein Arzt gewesen sein?«
»Ich war ein paar Monate bei einem Psychiater in Behandlung, wegen des Unfalls. Aber Medikamente hat er mir keine gegeben, es war eine reine Verhaltenstherapie.« »Ich verstehe kein Wort. Du hattest einen Unfall?«
»Ja.«
Valdemar schien einen Moment lang unschlüssig, ob er mir davon erzählen sollte. Schließlich begann er langsam und bedächtig: »Ich habe Familie in Argentinien, in Ushuaia. Das ist die südlichste Stadt der Welt.« Was auch immer das mit der Metro und dem Psychiater zu tun hat, dachte ich, aber ich wollte ihn nicht unterbrechen.
»Als ich noch an der Uni arbeitete und Geld hatte, fuhr ich jeden Winter dorthin, wobei in Argentiniendann ja Sommer ist«, fuhr er fort. »Obwohl es trotzdem ganz schön kalt ist, es ist ja nicht weit von der Antarktis. Dort gibt es vollkommen unberührte Gegenden, die man erkunden kann. In meinen Ferien tat ich das auch oft. Ich fuhr mit dem Auto so weit, bis die Wege endeten, und ging dann mit meiner Kamera zu Fuß weiter. Bei einer meiner Exkursionen habe ich einen Felsspalt übersehen und bin dreißig Meter in die Tiefe gestürzt.«
»Dreißig Meter? Das überlebt doch kein Mensch.«
»Normalerweise nicht, aber ich hatte das Glück, dass ein Baum meinen Sturz abfing. Ich nehme an, ich habe den einen oder anderen Ast zertrümmert, bevor ich auf dem Boden aufschlug.«
»Du nimmst es an ...?«
»Ja, ich hatte das Bewusstsein verloren. Etwa eine Stunde später kam ich an einem zugefrorenen Fluss
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