San Miguel: Roman (German Edition)
Ermahnungen. Es hatte ihr noch nie sehr gefallen, im Mittelpunkt zu stehen, ja sie schreckte eigentlich davor zurück. In ihrer Familie war sie immer das hässliche Entlein gewesen, stämmig und ungeschickt, aber das hier war anders, man hatte sie ausersehen, und sie stellte fest, dass sie die Aufmerksamkeit genoss. Einigermaßen jedenfalls. Und als es ihr zuviel wurde, als der Mann mit den Froschaugen, dem karierten Hemd und der geflickten Bluejeans sich vorbeugte und ihr etwas ins linke Ohr schrie, während der namens Isidro ihm von der anderen Seite widersprach und eine mit Spanisch durchsetzte Tirade losließ, rief sie Herbie auf französisch etwas zu – Chéri, sauve-moi –, und sofort war er zur Stelle und lenkte die Männer mit einer Riesenflasche Champagner ab, die aus einer ungenannten Quelle stammte und die er öffnete, noch bevor das Boot abgelegt hatte.
»À ta commande, madame« , säuselte er, schenkte erst ihr, dann dem Mann mit den Froschaugen und schließlich auch Isidro ein, der nur so lange aufhörte zu reden – über Rinder, sein Lieblingsthema –, wie er brauchte, um den Blechbecher auszutrinken, den er aus der Jackentasche gezogen hatte, als Herbie den Korken hatte knallen lassen. Und dann streckte Herbie, ihr Ehemann – wie sie den Klang dieser drei Silben liebte –, die Hand aus, als wollte er sie zum Tanz auffordern, zog sie von der Bank und reichte Isidro die große, schwere, dunkelgrüne Flasche, alles in einer einzigen fließenden Bewegung, und dann ließ sie sich von ihm führen, nicht auf eine imaginäre Tanzfläche, sondern zur Tür hinaus auf das Deck, wo die Sonne schien und eine Brise durch ihr Haar strich und Gischt aufstob, in glitzernden Tröpfchen durch die Luft flog und verschwand. Das Meer war ruhig, die Luft war mild – oder vielmehr nicht direkt mild, aber auch nicht kühl, jedenfalls noch nicht. Zu ihrer Rechten war das Festland mit seinen weißgesäumten Stränden und den grünen Bergen, die sich darüber erhoben, zu ihrer Linken die große, wie mit einem Flickenteppich bedeckte Insel und voraus, über dem Bug, größer jetzt, aber noch immer nicht mehr als ein Fleck am Horizont, der geheimnisvolle Ort, der ihr Zuhause sein würde. Herbie zog sie an sich und flüsterte: »Ah, enfin, je t’ai seule.«
Französisch. Es gehörte zu dem, was sie von Anfang an zu ihm hingezogen hatte – sie hatte diese Sprache als Mädchen lieben gelernt, und er hatte sie sich im Krieg angeeignet –, und jetzt war es ihre Geheimsprache geworden, die unter all diesen Cowboys und Seeleuten und Schafzüchtern nur sie beide beherrschten. Sie schloss die Augen, und er küsste sie, in aller Öffentlichkeit, doch das kümmerte sie nicht, denn der Champagner und die Sonne und das pure Staunen über das Abenteuer, auf das sie sich einließ, machten sie halbverrückt, und sie dachte an den Tag, als sie sich kennengelernt hatten, als er vor der Tür gestanden hatte, Herbert Steever Lester, im Anzug und mit Fliege und seinen lachenden blauen Augen, die in die ihren geblickt hatten, und wie er ihre Hand genommen und »Enchanté« gemurmelt hatte, obwohl er doch eigentlich nur nach ihrer Wohnung in der zweiundsiebzigsten Straße hatte fragen wollen, die zu vermieten war. Herbie. Ihr Ehemann. Ihre erste und einzige Liebe.
Und dann legte er den Arm um ihre Taille, und sie spazierten, nein, sie promenierten auf dem Deck. Und wenn sie die Flecken auf den Planken oder den Geruch der Tiere bemerkte, die kürzlich erst auf diesem Boot transportiert worden waren und nun ihrem Schicksal entgegengingen, so gestand sie es sich nicht ein. Warum sich den Tag verderben? Warum sich mit Unzulänglichkeiten aufhalten, wenn es so viel Schönheit zu bewundern gab? Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick schweifen. Das Festland blieb zurück, die Inseln rückten näher, alles war übergossen mit Sonnenlicht, alles glänzte, als wäre die ganze Welt frisch gestrichen.
Herbie plauderte auf englisch jetzt, er erzählte von der Insel und ihren vielfältigen Reizen, von dem Haus und ihrem Schlafzimmer, und sagte, sie werde ihre Aussteuer gar nicht brauchen – außer vielleicht diese hauchdünnen Nachthemden aus Paris. Abendkleider? Die konnte sie wegwerfen! Was glaubte sie wohl, wo sein Smoking war? Bei Bob Brooks in Beverly Hills. Und da würde er auch bleiben. Für immer. Denn sie waren unterwegs in das wirkliche Leben, das Leben in der Natur, wie Thoreau und Daniel Boone es beschrieben hatten –
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