San Miguel: Roman (German Edition)
einfach, kraftvoll und unverfälscht. Er ging auf und ab und redete, so begeistert, wie sie ihn kaum je erlebt hatte.
Als ihr der Wind schließlich zu heftig wurde, gingen sie wieder hinein, und es gab noch eine Runde Champagner und dann noch eine, und dann wanderten die Schatten von einer Seite zur anderen, und plötzlich stieg San Miguel vor ihnen aus dem Meer auf wie ein Bild auf einer fotografischen Platte, und sie gingen in einer Bucht vor Anker. Die Kette rasselte, und Herbie half ihr in das Dingi, das sie dorthin brachte, wo ihr neues Leben beginnen würde, und wenn sie in all den Jahren nicht daran geglaubt hatte, sie könnte sich neu erfinden oder eine zweite Chance bekommen oder einfach Glück haben, so blieb ihr jetzt nichts anderes übrig, als daran zu glauben.
DAS HAUS
Es gab zwei Pferde – Buck und Nellie –, doch die standen im Stall auf dem Hügel, wo Jimmie sie gelassen hatte, bevor er am Morgen zuvor an Bord der Vaquero gegangen war, und so schleppten Herbie und sie all ihre Sachen an den Strand oberhalb der Flutlinie, schulterten dann die Rucksäcke und marschierten auf dem unbefestigten Weg hinauf zum Plateau. Die Sonne stand inzwischen tief, und hinter ihnen hatte die Vaquero die Landspitze umfahren und glitt auf rotgestreiften Wellen davon. Sie sah dem Schiff über ihre Schulter nach, sie fühlte sich lebendig und hellwach, und alles war in weiches, schwindendes Licht getaucht. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Etwas huschte vor ihnen über den Weg. Was war das? Eine Eidechse. Oder eine Schlange. Aber Schlangen hatten doch keine Beine, oder?
In der Schlucht, an deren Wand der Weg hinaufführte, roch es feucht und urtümlich, wie im Inneren einer Höhle: der Einschnitt bildete einen Trichter für den Wind, der ihnen kalt entgegenwehte, so dass sie stehenbleiben musste, um ihre Strickjacke zuzuknöpfen. Und sobald sie den Strand hinter sich gelassen hatten, war alles voller Schlamm, der an den Sohlen klebte und jeden Schritt anstrengender machte als den vorigen. Nach kaum hundert Metern sahen die Schuhe aus wie zwei Boote – oder nein, wie diese großen klappernden Holzdinger, die man in Holland trug. Wie hießen die noch gleich? Sabots ? Nein, das war Französisch. Klompen. Ja, Klompen.
Aber da war Herbie, der voraustänzelte, in Shorts und Armeestiefeln; Hemdschöße und Haar flatterten im Wind, der ihm ebensowenig auszumachen schien wie der Schlamm oder alles andere. Sein Geist war so beschwingt, dass seine Füße kaum den Boden zu berühren schienen. Und das lag nicht am Champagner, dessen Wirkung inzwischen ohnehin nachgelassen und sie selbst eigentlich nur müde gemacht hatte, sondern an seinem natürlichen Überschwang, der ihn so aufgeputscht hatte, dass er tatsächlich zitterte wie einer dieser Kaffeesüchtigen, die man sah, wenn man einen Schnellimbiss betrat, wo sie einander anbellten wie dressierte Seelöwen. Alle halbe Minute kehrte er um und kam zu ihr, rückte ihren Rucksack zurecht, als wollte er sie den Weg hinaufschieben, hauchte ihr einen Kuss auf das Ohr, tätschelte ihren Hintern, ermunterte sie und trieb sie an. Und er redete natürlich. Er redete unentwegt.
»Siehst du die gelben Blumen auf dem Hang da? Das ist Hirschkraut. Das Komische ist, dass es hier keine Hirsche gibt, die es fressen könnten.«
»Nur Schafe.«
»Richtig, nur Schafe. Unsere Schafe. Die wirst du bald zu sehen kriegen. Aber diese anderen gelben Blumen – siehst du die? Bei denen die Blüten so dicht beieinanderstehen? Das ist Hornklee. Riesenhornklee. Bob sagt, den gibt es nur auf diesen Inseln. Aber du hast Glück. Jetzt ist die Zeit, in der alles blüht – wenn die Regenzeit vorbei ist und der Sommer kommt, verdorren die Pflanzen, und man sieht nur noch dieses braune Gestrüpp.«
Sie schnaufte. Um den Kopf hatte sie ein Tuch gebunden, und sie spürte den Schweiß auf den Schläfen. Guten Schweiß, der von körperlicher Anstrengung stammte, und wie verwunderlich war es, hierzusein, in der Wildnis, mit ihrem Ehemann neben sich, einen Rucksack aus Segeltuch auf dem Rücken und einen nicht enden wollenden Hügel hinaufstapfend – nur sie beide und kilometerweit keine andere Menschenseele. Die vergangenen drei Wochen waren ein einziger wilder Wirbel gewesen: der Schlafwagen, die ungewohnten Betten, die eilige, wegen des Mordes auf San Nicolas beinahe überstürzte Hochzeit. Ihre Schwester Anna hatte sich ins Zeug gelegt und weiter südlich, in La Jolla an der Küste, eine richtige
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