San Miguel: Roman (German Edition)
Cather kannte. Auf Landkarten war er eine gewaltige braune, von Gebirgen durchzogene Fläche aus Wüste und Prärie, bevölkert von Kakteen, Klapperschlangen, Indianern, Cowboys, wilden Mustangs und ihren Zureitern. Und was gab es dort sonst noch? Goldsucher. Ölmagnaten. Filmstars. Sie dachte an Chaplin, der seinen eigenen Schuh aß, an Laurel und Hardy, die an einer von Palmen gesäumten Straße Weihnachtsbäume verkauften. Der Westen. Terra incognita. Terra insolita. Und jetzt war sie hier, an der Westküste der USA , und wartete auf den Viehfrachter, der sie von hier zum allerletzten Stück Land bringen sollte, mit dem dieser Kontinent aufwartete, zu einer Insel, die wie in einem nachträglichen Einfall ins Meer geworfen worden war. Achtunddreißig Jahre. War das Leben nicht seltsam?
Es war ein früher Morgen Ende März im Jahr 1930 . Sie sah die Sonne über den Küstenbergen zu ihrer Linken aufgehen, und auch das war seltsam, denn bisher war die Sonne immer aus dem Wasser des Long Island Sound aufgetaucht – eine vibrierende gelbe Scheibe, die aussah wie ein Eidotter, und die kabbelige See erstreckte sich bis zum Horizont und färbte sich von Schwarz zu Grau und schließlich zum reinen, unverfälschten Blau des Himmels –, natürlich nur, sofern die Sonne schien. Und meist schien sie nicht. Meist war der Himmel bedeckt, und es nieselte, regnete oder graupelte. Aber hier gab es keine Graupeln, hier würde es erst welche geben, wenn die nächste Eiszeit kam. Hier gab es nur die Sonne, die jetzt zu einer feurigen Kugel anschwoll, sich aus dem Griff der Berge befreite und alles Vertikale mit langen Schatten versah: die ankernden Schiffe, die Pfosten der Pier, die Bäume entlang des Steilufers – unter denen, wie sie erst jetzt bemerkte, Palmen waren. Man stelle sich vor: Palmen .
Das Boot – Herbie hatte ihr gesagt, sie solle in Richtung Osten Ausschau danach halten, während er in seiner typischen hektischen Gangart davontrabte, um in letzter Minute noch ein Dutzend Sachen zu besorgen –, das Boot hieß Vaquero und wurde von der Familie auf einer der anderen Inseln benutzt, um Vieh über den Kanal aufs Festland zu bringen. Sie sah auf das Meer und roch den Seewind. Die Sonne stieg höher. Menschen liefen über die losen Planken der Pier, gingen ihren Geschäften, ihren maritimen Geschäften nach und achteten nicht auf sie. Herbie hatte ihr aufgetragen, auf ihr Gepäck zu achten – ein rascher Kuss, ein Aufblitzen der Augen, Bin gleich wieder da –, aber sie war ganz unbesorgt. Wenn an diesem Morgen irgendwelche Diebe auf der Pier unterwegs waren, so fielen sie ihr jedenfalls nicht auf.
Als das Boot schließlich in Sicht kam, war es ein ferner schwarzer Punkt, der aus den Schatten der Berge auftauchte und hin und wieder aufleuchtete, weil die Wogen es in die ansteigende Flut des Sonnenlichts hoben. Sie beschattete mit der Hand die Augen und beobachtete das Boot, während es größer wurde und die Brise ihr seinen Geruch zutrug: Urin, Kot, den beklemmenden, schwärenden Gestank von Drüsen, Sekreten und Haut, Rinderhaut. Und dann legte es an, wurde vertäut und stieß sanft an die Pfosten, und ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht, Bluejeans und einem breitkrempigen Hut stieg die Leiter hinauf zur Pier. Er war klein, kleiner als sie jedenfalls, und weil er so schlank und agil war, dauerte es einen Moment, bis sie merkte, dass er nicht so jung war, wie er wirkte. Ganz und gar nicht jung. Rings um die Augen hatte er tiefe Falten, und unter seinem nachlässig rasierten Kinn sprossen weiße Stoppeln, und sie fragte sich, wie man sich wohl an Bord eines Schiffs auf hoher See rasierte, wenn alles schaukelte und schlingerte und ein Rasiermesser – sogar ein Rasierapparat – ein Risiko ganz eigener Art darstellte.
Er stand einen Augenblick da, als müsste er sich orientieren, sah zuerst sie an und dann von ihr auf die Koffer, Taschen, Truhen, Kisten und Säcke voller Vorräte und wieder in ihr Gesicht. Und schließlich setzte er sich in Bewegung, stampfte mit kurzen, raschen Schritten – Stiefel, er trug Cowboystiefel – über die Planken der Pier auf sie zu und lächelte so breit, dass sie die rissigen grauen Reste seiner Backenzähne sehen konnte. »Sie müssen die junge Braut sein«, sagte er, lüpfte den Hut und sagte ihr seinen Namen, den sie im selben Moment wieder vergaß. Junge Braut .
Ja, sie war eine junge Braut, zwanzig Jahre nach ihrem Debüt im Delmonico’s, als ein komplettes Orchester gespielt,
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