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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nicht um einen Gefallen, sondern sagte nur: »Ich komme mit.«
    »Ich weiß nicht«, sagte er, und ihr sank das Herz – er war wie die anderen, schwach und ohne Mumm, er hatte Angst vor ihrem Stiefvater, Angst vor den Behörden. Doch dann sah er sie an und hielt ihrem Blick stand, und sie spürte, dass er sich durch das Gewirr seiner Einwände kämpfte, bis er schließlich seufzte und sagte: »Mit der Ladung liegt das Boot ganz schön tief im Wasser. Und diese Viecher sind auch nicht gerade eine besonders angenehme Gesellschaft.«
    »Das macht mir nichts aus.« Sie machte eine Geste, die das Lamm auf dem Hackklotz, die primitive Küche und die Tür zum Hof einschloss.
    »Und der Guano. Das ist Scheiße, Möwenscheiße.«
    »Ich weiß.«
    »Es stinkt entsetzlich, wenn so viel davon auf einem Haufen liegt.«
    »Das glaube ich«, sagte sie.
    »Treibt einem die Tränen in die Augen. Und es wird eine rauhe Überfahrt, und ich weiß nicht, ob du – «
    »Psst«, sagte sie, beugte sich vor und küsste ihn noch einmal.
    Sie fühlte sich wie ausgehöhlt, in ihrem Kopf pochte es, und sie hatte kaum geschlafen, doch diesmal war sie zur Stelle, als unter einem Himmel voller verblassender Sterne die Tür der Baracke aufschwang. Wenn er überrascht war, sie zu sehen, so verbarg er es gut. Sie hatte auf ihrem Koffer gesessen, und als die Tür sich öffnete, stand sie auf und ging zu ihm, und er nahm ihre Hände und ließ sich von ihr einen Kuss auf die Wange hauchen. Er hatte seine zusammengerollte Decke über die eine und eine Ledertasche über die andere Schulter gehängt und sah bleich und mitgenommen aus, und seine Augen waren umschattet. Sie fragte sich, wie sehr er wohl die Nachwirkung des Rums spürte – wenn sie sich schon so schlecht fühlte, wie schlimm musste es dann für ihn sein? War er imstande, das Boot zu lenken? Konnte er sie hinausrudern? Schaffte er es überhaupt bis zum Strand?
    In diesem Augenblick schwang die Tür der Baracke abermals auf, und ihr Herz setzte aus, bis sie die dunklen Umrisse des Hundes erkannte. Sie sah, wie er am Fuß der Treppe das Bein hob, sich schüttelte und in Richtung Scheune davontrottete, und noch immer stand sie da und hätte nicht sagen können, worauf sie eigentlich wartete.
    »Tja«, sagte er, »das da ist wohl dein Koffer.«
    »Ja«, flüsterte sie. Sie drehten sich gleichzeitig um und gingen mit großen Schritten darauf zu, und er zögerte keinen Augenblick, sondern bückte sich, packte den Koffergriff und marschierte weiter über den Hof und die Straße entlang, und sein langen Beine bewegten sich so schnell, dass sie Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Es wurde kaum merklich heller, und dann begann in der Ferne der Hahn zu krähen. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er auf dem Schuppendach hockte, auf das er, so lange sie zurückdenken konnte, jeden Morgen mit wild rudernden Beinen gesprungen war, und ihr einziger Gedanke war, dass sie ihn in ihrem ganzen Leben nie wieder würde hören müssen.
    Da war das auf den Strand gezogene Dingi, und er verstaute ihren Koffer im Bug und half ihr wie ein Gentleman an Bord, so dass sogar ihre Füße trocken blieben. Die Wellen wiegten sie. Der Strand blieb zurück. Vor ihnen lag das Boot vor Anker, auf einem Meer, so ruhig wie festes Land, und unter dem von der Sonne gebleichten Netz konnte sie drei dunkle Gestalten erkennen. Die Robben. Die Gefangenen. Eingehüllt in ihr animalisches Wesen und ihren elenden fischigen Gestank. Sie verließen diese Insel und würden nie zurückkehren, und für Edith galt dasselbe. Die Riemen knarzten, und Robert warf einen kurzen Blick über die Schulter, wandte sich wieder zu ihr und lächelte. Es war ein einfaches, unverfälschtes Lächeln voller Erregung über das, was sie taten, was sie tat, ein Lächeln der Anerkennung, der Bewunderung, ja der Verehrung.
    Das war nur angemessen. Denn jetzt war alles anders. Sie war nicht mehr Edith Scott Waters, sie war keine junge Frau von irgendeiner Schafranch auf irgendeiner Insel, sie war in keiner Weise gewöhnlich. Sie war Inez Deane, die Königin der Bühne, und sie kehrte nach Hause zurück.

Teil III
ELISE

ANKUNFT
    Sie war seit achtunddreißig Jahren auf dieser Welt und bis vor drei Wochen noch nie westlich des Hudson gewesen – in den Berkshires, ja, in Boston und Newport, als junges Mädchen, sogar in Paris und Montreux, aber westlich des Hudson? Nie. Der Westen war etwas, was sie nur aus Büchern von Francis Parkman, Mark Twain und Willa

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