San Miguel: Roman (German Edition)
ging hinaus.
Jetzt hatte sie also eine Katze. Die Katze stammte vom Festland, wo Adolph vor ein paar Tagen erst gewesen war, und jetzt gab es die Verheißung – oder vielmehr die Hoffnung, wenigstens die Hoffnung –, dass sie alle dorthin, nach Hause, zurückkehren würden, sobald Will mit Nichols und dem zukünftigen Verwalter alles geklärt hatte. Inzwischen begann ein neuer Zyklus: Sie gewann nach und nach Kraft zurück, und alles kreiste um diese strahlende Verheißung. Nach einer ganzen Woche Bettruhe zwang sie sich aufzustehen, den Schrankkoffer und die Hutschachteln zu öffnen, die Kleider und Hüte einzupacken und alles zu ordnen, und als sie es nicht mehr aufschieben konnte, ging sie sogar hinunter in die Küche, wo Ida war.
An jenem ersten Tag schlich sie lautlos die Treppe hinunter, in Pantoffeln, und der Kater folgte ihr auf leisen Pfoten. Sie bewegte sich, sie machte Schritte, doch sie spürte ihre Beine nicht. Sie erschienen ihr kraftlos, gestaltlos, als hätten sie sich von ihrem Körper gelöst, als bediente sie sich der Beine einer anderen Person, die gebrechlich, unvorstellbar alt, ja eigentlich schon körperlos war. Körperlos, ja, das war sie. Ein Geist. Ein Luftwesen. Und sofern sie daran zweifelte, brauchte sie nur die Wände des Flurs zu betrachten: Die Flecken, die ihr Blut hinterlassen hatte, waren allesamt abgewaschen, so dass es war, als wäre sie nie hiergewesen.
Sie fand Ida in der Küche, über den Waschtrog gebeugt. Die Fenster waren beschlagen, der Ofen verströmte Wärme, die üblichen Gerüche lagen im Widerstreit miteinander. Lange stand sie zögernd in der Tür. Was sollte sie zu ihr sagen? Wie sollte sie ihr ins Gesicht sehen? Wie konnte sie mit ihr unter demselben Dach leben, ohne von innen heraus zu explodieren wie einer von Wills Felsen? Bevor sie diese Gedanken zu Ende denken konnte, verriet der Kater sie. Er stolzierte mit hocherhobenem Schwanz hinein, und Ida, deren langer, unordentlich geflochtener Zopf ihr über die Schulter hing, bemerkte die Bewegung und hob den Kopf. Sie sahen einander in die Augen. »Ma’am«, stieß Ida hervor, »ach, Ma’am, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll – «
Stahl, sie war aus Stahl, unbeugsam, unzerbrechlich, und jetzt spürte sie ihre Beine wieder, die Muskeln dort spannten sich an, und alles in ihr war hart und starr. »Dann sag nichts.«
»Aber ich – « Idas Gesicht verzog sich zu einer verzweifelten Grimasse. Sie brach in Tränen aus, noch bevor sie die Hände aus der Seifenlauge ziehen und an der Schürze abtrocknen konnte.
Maranthas Ziel war der Tisch. Sie wollte nur durch die Küche zum Stuhl gehen, sich mit einem Becher Tee und einem Sandwich an den Tisch setzen und etwas anderes sehen als die vier Wände des Schlafzimmers, ganz gleich, wie schmutzig und unordentlich es dort war, doch so weit kam sie gar nicht, denn Ida glitt wie an einer Schnur gezogen auf sie zu. Beinahe hätte Marantha die Arme ausgebreitet, beinahe hätte sie Ida in die Arme geschlossen wie das Kind, das sie eigentlich noch war – doch das war nicht natürlich, das war nicht recht. »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf, während das Mädchen mit hängenden Schultern dastand und zerknirscht die Augen niederschlug. Und obgleich sie erkannte, dass nicht Ida schuld war, sondern Will – Will und sie selbst, weil sie es zugelassen hatte, dass er sie und die anderen an diesen einsamen Ort gebracht hatte, wo es keine Gesellschaft, keine Zuneigung, keine Manieren, ja nicht einmal gewöhnlichen menschlichen Anstand gab und wo die Krankheit mit ihr machen konnte, was sie wollte –, wandte sie sich ab und zog den Stuhl unter dem Tisch hervor. »Bring mir einen Becher Tee«, sagte sie über die Schulter. »Und ein Sandwich. Mach mir ein Sandwich.«
DER EINARMIGE
Aus April wurde Mai. Ihr gepackter Schrankkoffer stand im Flur, gleich hinter der Haustür, so dass Will ihn jedesmal sah, wenn er hinein- oder hinausging, und sie würde ihn nicht mit einem Blumenstrauß oder einer Decke verzieren oder versuchen, ihn irgendwie zu verbergen. Es war ihr Koffer. Und er stand an der Tür. Will konnte das deuten, wie er wollte.
Sie saß eines Nachmittags mit Edith auf der Veranda – ihre Fußballen hoben und senkten sich mit der Bewegung des Schaukelstuhls, ihr Atem ging flach, aber regelmäßig, das Laken, das sie flickte, lag in sanften Wellen auf ihrem Schoß, und neben ihr schlief der Kater in einem Fleck aus goldenem Sonnenlicht –, als vollkommen
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