San Miguel: Roman (German Edition)
unerwartet der einarmige Mann erschien. Edith sah ihn zuerst. Auch sie saß, zur Abwechslung einmal in ein Schulbuch vertieft, auf einem Schaukelstuhl, und Will und die anderen waren nirgends zu sehen – vielleicht flickten sie Zäune oder sammelten Treibholz, wer konnte schon wissen, wo sie waren? –, als sie einen leisen Schrei ausstieß und so abrupt aufsprang, dass die Stuhllehne gegen die Verschalung des Hauses stieß. »Da ist Captain Curner, Mutter, sieh doch! Und wen hat er da mitgebracht?«
Marantha musste zweimal blinzeln, um sich zu überzeugen, dass sie sich nichts einbildete. Zwei Gestalten erstiegen den Hügel und tauchten nach und nach aus dem Dunst auf, der sich noch hielt, obwohl es schon zwei Uhr war und er sich längst hätte auflösen sollen. Da war Curner, ja, sein Gesicht unter der speckigen Seemannsmütze hatte die Farbe und Textur eines geräucherten Schinkens, und auf einer Schulter trug er eine Kiste. Wie hatten sie bloß das Segel in der Bucht übersehen können? Der Nebel, das war es, der Nebel hatte ihnen die Sicht genommen. Er lag noch immer über dem Wasser, als hätte das Meer den Himmel wie eine Jalousie so tief herabgezogen, dass zwischen den beiden praktisch kein Abstand mehr war. Aber wer war der andere Mann?
Das klärte sich bald. Curner kam über den Hof auf sie zu und stellte die Kiste auf dem Rand der Veranda ab, während der Fremde, der ihm folgte, am Fuß der Treppe stehenblieb und Edith und sie mit zusammengekniffenen Augen musterte. Er war schmächtig, nicht größer als Jimmie, und trug ausgebleichte und geflickte Arbeitskleidung. Der linke Ärmel hing leer herab, so dass es schien, als lehnte er nach einer Seite, obwohl er sich so gerade hielt wie ein Soldat. »Guten Tag, Missus«, sagte er. Seine Gesichtshaut spannte sich straff über die Knochen und den senkrechten Vorsprung seiner sehr großen Nase, einer englischen Nase, wie sich erwies. »Und auch Ihnen einen guten Tag, Miss. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich das Vergnügen mit Miss und Missus Waters habe?«
»Ja«, hörte sie sich sagen. Curner murmelte ebenfalls eine Begrüßung, während Edith, sonst nie um ein Wort verlegen, lediglich wiederholte, was Marantha gesagt hatte.
Der Fremde – plötzlich wusste sie, wer er war, und die Erkenntnis kam so unvermittelt über sie, dass sie beinahe aufgeschrien hätte – bedachte sie mit einem Pferdelächeln: nur Zähne, keine Lippen. »Ich bin Horace Reed, Missus«, sagte er unter Auslassung des H, »zu Ihren Diensten.«
»Er ist für einen Tag mit rausgekommen – oder vielmehr für einen Tag und eine Nacht, denn morgen früh brechen wir wieder auf«, sagte Curner.
»Nur um mich schon mal vertraut zu machen«, warf Reed ein. »Um zu sehen, ob Ihr Mann mit mir einverstanden ist. Und Sie – Sie natürlich auch.«
Wieder versuchte er zu grinsen. Und dann tastete er in der Brusttasche seiner Jacke nach etwas, nach einem versiegelten Umschlag, den er ihr reichte. Der Brief stammte von Nichols und war an ihren Mann adressiert, doch sie war so aufgeregt, so überglücklich, dass sie gar nicht anders konnte, als den Umschlag aufzureißen und einen Blick auf das Schreiben zu werfen.
Hiermit empfehle ich Ihnen Mr. Reed , stand da, einen Mann, der über große Erfahrung mit der Führung einer Ranch im allgemeinen und der Schafzucht im besonderen verfügt, Erfahrungen, die er in seinem Heimatland, aber auch in Santa-Ynez-Tal gesammelt hat. Ich habe mich mit dem dortigen Eigentümer in Verbindung gesetzt, der eine hohe Meinung von Mr. Reed hat. Mr. Reed möchte die Arbeit als Verwalter gern übernehmen, denn er hat eine Frau und sechs Kinder und ist im Augenblick ohne Anstellung, da sein bisheriger Arbeitgeber die Ranch verkauft hat. Er versichert mir, dass er trotz seiner kleinen Statur und seiner offensichtlichen Behinderung voll und ganz in der Lage ist, die Ranch zu den Bedingungen zu führen, auf die wir uns geeinigt haben – das heißt, er wird seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten und erhält jährlich ein Drittel des Zuwachses der Herde. Wenn Sie einverstanden sind, wird er die Ranch am 29 . dieses Monats von Ihnen übernehmen.
Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn wieder in den Umschlag und musste an sich halten, um nicht loszulaufen und nach Will zu rufen, denn das musste er sehen: Er musste den Brief lesen und einen Blick auf den Mann werfen und ihn unverzüglich einstellen. Ihre Hand zitterte, als sie den Brief an die Brust
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