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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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drückte. Der neue Mann – Reed – studierte ihr Gesicht, und seinen Augen entging nichts. Sie hatte in seiner Anwesenheit einen Brief geöffnet, der an ihren Mann gerichtet war, und das war zwar ein schwerer Verstoß gegen die Regeln des guten Benehmens – was hätte ihre Mutter wohl dazu gesagt? –, doch sie tat es ab, denn vor dem Gesetz waren Mann und Frau gleichgestellt, und Will und sie waren Partner in diesem Unternehmen, ganz gleich, was irgend jemand anders dachte oder erwartete.
    »Ich bin sicher, Sie sind genau, was wir suchen«, sagte sie, »und ich bin auch sicher, dass Sie hier alles finden, was Sie sich wünschen. Es ist ...« Sie hielt inne und versuchte, die Dinge in ein positives Licht zu rücken. »Es ist sehr friedlich hier draußen. Stimmt’s, Edith? Still. Ruhig.«
    »Ja«, sagte Edith und warf ihr einen Seitenblick zu, »sehr ruhig.«
    »Wenn einem so was gefällt, meine ich.«
    Er trat einen Schritt näher und nahm die Mütze ab – sie sah ganz ähnlich aus wie die Jimmies, nur dass diese sauber war oder jedenfalls so wirkte. »Eine Farm ist eine Farm, Missus, und wenn man eine gesehen hat ...« Er schloss den Satz mit einer Handbewegung. »Einsamkeit und Frieden, das wünscht man sich als Mann, keine Frage. Und glauben Sie nur nicht, dass mich das hier« – er zeigte auf den leeren Ärmel – »in irgendeiner Weise langsamer macht oder behindert. Ich kann nämlich arbeiten für zwei, und wenn ich etwas nicht allein erledigen kann, helfen mir meine beiden Jungs Cuthbert und Thomas. Sie sind vierzehn und sechzehn und fassen mit an.«
    Sie wollte ihn in diesem Punkt beruhigen – er war ein Geschenk des Himmels, ihr Erlöser, der einzige, der sie von hier fortbringen konnte, und es war ihr ganz gleich, wie schmächtig und mager und verkrüppelt er war, solange er nur auf zwei Beinen stand und atmete –, doch sie kam nicht dazu, denn Curner ergriff das Wort. »Also, Ma’am«, sagte er und zeigte auf die Kiste, die er auf der Veranda abgestellt hatte, »wo soll ich sie hinstellen?«
    Wer wollte ihr vorwerfen, dass sie sie, beglückt, wie sie war, nicht gleich erkannte? »Was ist das?« fragte sie. Curner nickte und trat von einem Bein aufs andere, Reed sah unbeteiligt aus, und Edith war ihre eigene unbezähmbare Freude ins Gesicht geschrieben: Sie waren frei, endlich frei, sie waren praktisch schon unterwegs.
    Curner zuckte die Schultern. Er verzog das Gesicht. »Die Teller«, sagte er. »Die wollten Sie doch haben, oder?«
    Bei der Unterredung, die Will mit dem Mann hatte, war sie nicht dabei – sie war früh zu Bett gegangen, zu aufgewühlt, um ihre Gefühle zu verbergen oder bei Tisch die Gastgeberin zu spielen –, doch jedesmal, wenn sie im Verlauf des Nachmittags aufgeblickt hatte, waren die beiden zu sehen gewesen, wie sie über den Hof gingen und die Felder inspizierten und die Eisenbahnschwellen, auf denen die Scheune ruhte, begutachteten, als handelte es sich um kostbare Kunstwerke. Sie sagte, sie werde auf ihrem Zimmer essen, obwohl sie vor Aufregung den Appetit verloren hatte, und als Edith ihr das Essen brachte, tuschelten sie wie Komplizinnen. »Nur noch drei Wochen«, sagte sie, und Edith kicherte und wiederholte: Nur noch drei Wochen . Dann las sie die alten Ausgaben der Zeitung von Santa Barbara, die Curner mitgebracht hatte. Der Kater – wegen seiner Zeichnung hatte sie ihn Marbles getauft – lag auf ihrem Schoß, wo sie mit beständigen leichten, geistesabwesenden Bewegungen das seidige Fell an seinen Ohren kraulte. Es war nach neun Uhr, und draußen herrschte Dunkelheit, als sie Will die Treppe heraufkommen hörte, mit unsicheren Schritten, als hätte er getrunken – und das hatte er, wie sie wusste, mit Curner und dem Fremden, ihrem einarmigen Erlöser. Sie machte ihnen keinen Vorwurf. Sollten sie nur feiern. Wenn sie nicht abergläubisch gewesen wäre, hätte sie ebenfalls gefeiert.
    Will stand auf dem Treppenabsatz. Er stand vor ihrer Tür. Seltsamerweise klopfte er an. Das leise Pochen seiner Fingerknöchel klang so höflich, so zurückhaltend gedämpft, dass man hätte glauben können, sie wären einander fremd. »Herein«, sagte sie, die Tür öffnete sich, und da war er, ihr Mann, machte ein bekümmertes Gesicht und schüttelte den Kopf, und zuerst dachte sie, er hätte beim Kartenspiel verloren, und dann kam ihr der Gedanke, er könnte dem Einarmigen das Bett in der Vorratskammer angeboten haben, anstatt ihn in der Baracke unterzubringen, wohin er gehörte,

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