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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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des Bluts im menschlichen Körper war begrenzt, und begrenzt war auch die Größe der Last, die ein Mensch, und sei er ein Heiliger oder Märtyrer, tragen konnte. Das Bett war kalt. Sie konnte ihre Zehen nicht spüren. Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, ganz gleich, wie heftig sie daran rieb. Sie rief nach Edith, denn sie wollte Ida nicht im Zimmer haben, nie, nie mehr, und das erste, was sie hörte, war das Seufzen von Ediths Matratze im Zimmer gegenüber, dann Schritte und die Tür, und dann war Edith da, rang sich ein ängstliches Lächeln ab und fragte sie, wie sie sich fühle.
    Und so war es Edith, die sie pflegte, Edith, die ihr half, das Haar zu kämmen, die ihr die Medizin und die von Ida gekochte Suppe brachte, und als Will von seiner Arbeit kam, in der Tür stehenblieb und sie betrachtete, als wäre er ein Trauergast bei einer Beerdigung, sah sie ihn an wie einen Fremden. Worte waren unnötig – sie komplizierten die Dinge nur. Er kam und ging. Sie schlug die Augen auf, und er war da oder nicht da. Sie röchelte, in ihrer Lunge rasselte es. Erst als er das dritte- oder viertemal kam, um nach ihr zu sehen, fand sie die Kraft, sich mit der Situation zu befassen, den Kopf zu heben und die Gefühle, die sie marterten, in Worte zu kleiden. Sie war eingenickt, und als sie aufwachte, war vor dem Fenster dasselbe zinngraue Licht wie immer, und im Sessel saß Will, den Hut in der einen Hand, in der anderen ein aufgeschlagenes Buch. »Ich will zurück«, sagte sie.
    Er warf ihr einen raschen Blick zu, wirkte erschrocken, als hätten die Wände zu ihm gesprochen. Er legte den Zeigefinger in das Buch, bevor er es zuklappte, und zog die Beine an, so dass sich seine Knie unter dem dünnen, abgetragenen Stoff der Hose abzeichneten. »Ich weiß«, sagte er. »Und es tut mir leid. Alles tut mir leid.«
    Der Raum schien sich zu drehen wie am ersten Tag, alles war in Bewegung, als betrachtete sie ihn durch ein Kaleidoskop. Sie brauchte lange, um sich aufzusetzen – sie hatte keine Kraft in den Armen und musste nach Luft ringen.
    »Adolph ist wieder da«, sagte er. »Ich habe ihn zu Nichols geschickt, und sie – nein, wir – halten es für das Beste, einen Mann hierherzuholen, einen Angestellten, der seine Familie mitbringt, einen Verwalter eigentlich ...« Er stand auf, und sie konnte nicht sagen, ob er lächelte oder nicht – sein Gesicht war so zerfurcht und sonnenverbrannt und seine Miene so undurchdringlich, dass sie ihn kaum wiedererkannte –, und er sah alt aus, so alt . »Und er hat dir etwas mitgebracht, um dich aufzumuntern – «
    »Wer?«
    »Adolph.«
    »Adolph hat mir etwas mitgebracht?« Für einen Augenblick sah sie ihn vor sich, diesen humorlosen Bauerntrottel mit den schweren Gesichtszügen und dem lüsternen Blick. Das Weichste, was es gibt – außer einer anderen Sache vielleicht.
    »Soll ich es holen? Möchtest du es gern sehen?«
    Was Adolph ihr mitgebracht hatte – und sie erstarrte, als Will ihn in seiner schmutzigen Arbeitskleidung und den löchrigen Socken hereinführte, bis sie sah, was er in den Armen hielt –, war eine Katze. Keine Siamkatze wie Sampan, sondern eine silbern und schwarz gestromte Katze mit großen, aufmerksamen Augen und Streifenwirbeln auf den Seiten, die Marantha an einen Marmorkuchen denken ließen. Recht geschmeidig für einen Mann, der beinahe so alt war wie Will, trat Adolph an ihr Bett und schlug die Augen nieder – er sah ihr nie in die Augen, obwohl sie ihn am Esstisch dabei ertappt hatte, dass er sie verstohlen musterte, und sie konnte sich nur vorstellen, welches Bild sie jetzt abgab: zum Skelett abgemagert, kalkweiß, mit riesigen, glänzenden Augen, die sich an das Licht klammerten wie die der Katze. Er sagte kein Wort, sondern hielt ihr nur die Katze hin – es war ein ausgewachsener Kater, zahm und anschmiegsam, das sah sie auf den ersten Blick –, und dann lag das Tier auf ihrem Bauch, und sie spürte das Schnurren durch Morgenmantel und Nachthemd auf der dünnen, straff gespannten Haut über ihren Rippen. Eine Katze. Die schnurrte. Es war ein kleines Wunder. »Danke«, flüsterte sie und lächelte ihm zu, vielleicht zum erstenmal seit dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, und damals war es ein Lächeln der Höflichkeit, nicht des Dankes gewesen.
    Und Adolph? Sie mochte ihn nicht, sie würde ihn nie mögen, doch hier hatte er seinen Augenblick der Größe: Für einen kurzen Moment erwiderte er ihren Blick, nickte ihr zu, drehte sich um und

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