Sanctus Satanas - Das 5. Gebot: Thriller (German Edition)
ist sie, Vater.«
»Was wirst du tun, mein Sohn?«
Der Vater sitzt neben dem zwölfjährigen schmächtigen
Jungen auf dem Bettrand, versilbert durch das Mondlicht, das durch das
gardinenlose Fenster fällt, und der Junge blickt zu ihm auf in das scharf geschnittene,
ihm so vertraute Gesicht, dem einzigen vertrauten Gesicht, denn der Vater
duldet nicht, dass er Freunde hat.
Die feingliederige Hand des Vaters auf seinem zarten
Arm ist warm, der Alkoholgestank, der aus dem Mund des Vaters strömt, abstoßend.
»Also, was wirst du tun, mein Sohn?«
»Ich werde zu ihr beten, Vater.«
Nathans Blick gleitet zu der Kommode am Fußende seines
Bettes. Die Statue der Madonna darauf ist ebenso vom Mondlicht versilbert wie
sein Vater.
»Sie wird dich nicht verlassen, Nathan, wie deine
Mutter es getan hat. Sie wird dich niemals verlassen. Sie ist rein.«
»Ja, sie ist rein. Aber … aber Mama wollte mich doch
auch nicht verlassen! Du hast sie hinausgeworfen. Hure, billiges Miststück hast
du sie genannt.«
Die Worte sprudeln aus Nathan hinaus, auch wenn er die
Folgen kennt. Denn die warme Stimme seiner Mutter ist in seinen Gedanken, jetzt
und immer, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde, seit damals, als sie gegangen
ist. »Ich will dich nicht verlassen, Nathan«, sagt sie. »Ich liebe dich. Hörst
du? Aber dein Vater kontrolliert mich tagein, tagaus.« Blut tropft von ihren
zerschlagenen Lippen.
»Doch, sie wollte dich verlassen, Nathan.«
»Nein, das wollte sie nicht.«
Der erwartete Schlag lässt Nathan auf dem Bett
erstarren.
Die Augen des Vaters sind dunkel. Lange betrachtet er
Nathans Gesicht mit einer Traurigkeit, so unendlich, als würde er in einen
bodenlosen Abgrund schauen.
»Du machst mir keine Freude, mein Sohn.«
»Doch, Vater.«
»Du denkst, ich will dir wehtun, wenn ich sage, dass
die Hure, die sich deine Mutter nennt, nicht mehr kommt. Aber ich will dir nur
eine Enttäuschung ersparen. Menschen, die man liebt, enttäuschen einen immer.
Das wird dich das Leben lehren. Nur der Glaube macht uns stark. Ich war
haltlos, bevor ich zum Glauben gefunden habe. Der Glaube ist ein Geschenk. Und
dieses Geschenk will ich dir machen. Begreifst du das?«
»Ja, Vater.«
»Und warum bist du dann nicht dankbar?«
»Ich bin dankbar.«
»Warum willst du mich dann verlassen?«
»Ich will dich nicht verlassen, Vater.«
»Du bist wie sie, wie deine Mutter. Du hast die
gleichen Augen. Du bist voller Sünde wie sie. Sag es.«
»Ja, ich bin voller Sünde. Nein, das bin ich nicht!
Und sie wird kommen! Sie wird mich holen!«
Der Schlag ins Gesicht ist so brutal,
dass Nathan glaubt, ohnmächtig zu werden.
Ein
paar Tage danach war Nathan nach der Schule abgehauen, bevor sein Vater ihn wie
immer dort hatte abholen können.
Voller Erwartung war er zu der Adresse seiner Mutter gelaufen
(irgendwo zwischen den Papieren seines Vaters hatte er die Adresse gefunden),
hatte vor dem Zweifamilienhaus gestanden, sich nicht überwinden können zu
klingeln, sich deshalb hinter der Ecke eines Hauses gegenüber versteckt,
gewartet, sehnsüchtig, voller Hoffnung, dass seine Mutter irgendwann das Haus
verlassen, ihn sehen und glücklich in die Arme schließen würde, dass er ihre
Wärme spüren, ihren vertrauten Geruch atmen würde.
Und sie war gekommen.
Und sie hatte glücklich ausgesehen.
Aber nicht wegen Nathan.
Nicht weil ihr Junge zu ihr gekommen war.
Ihr fröhliches Lachen hatte dem neuen Mann an ihrer
Seite gegolten, mit dem sie das Haus verlassen hatte, und das Lächeln des
Mannes an ihrer Seite hatte ihrem Bauch gegolten, der so rund wie eine Kugel
gewesen war.
Ohne nachzudenken, war Nathan zu seiner Mutter über
die Straße gerannt. »Du Hure! Ich hasse dich!«
Dann war er davongelaufen.
Der Glaube macht stark. Es tut nicht
weh. Kein bisschen.
Das
Flattern einer Amsel in dem verwilderten Klostergarten riss Pater Nathan
Emanuel Lindenburg aus seinen Erinnerungen.
Eigentlich müssten sie längst hier sein.
Was, wenn Lena Pater Jerome überzeugt hatte, sie gehen
zu lassen?
Seine Gedanken glitten zu Amelie.
Äußerlich war sie so rein wie Schnee.
Doch Schnee bedeckt dunkle Erde.
Schweiß trat auf seine Stirn. Du sollst nicht
töten.
Aber welche Wahl hatte er denn?
Du bist der eingeborene Sohn, o Herr,
und die Mächte der Unterwelt werden deine Kirche nicht überwinden .
*
Eine
Viertelstunde später bohrte sich Amelies verzweifeltes Flehen in Lenas Hirn,
als Pater Nathan die geistig behinderte Frau in dem
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