Sanctus Satanas - Das 5. Gebot: Thriller (German Edition)
Norden.
Vor ihnen war plötzlich eine Lichtung.
Die Wärme der Sonne tat gut, als sie aus dem Wald
hinaustraten. Ein Kaninchen verschwand in seinem Erdloch, und aus dem
hellgrünen Frühlingsgras drang das schrille Piepsen von Vögeln.
»Nicht, Amelie!«
Lena konnte nicht verhindern, dass Amelie in die sonnenhelle
Lichtung hinauslief. Übermütig wie ein Fohlen hüpfte sie über das feuchte Gras,
das Gesicht dem Himmel entgegenhaltend.
Ihre Stimme, als sie mit ausgebreiteten Armen
umherwirbelnd eine Melodie summte, klang angenehm warm, ihr Lachen, als zwei Vögel
aufgeschreckt davonflogen, umso schriller.
Lena bekam sie am Arm zu fassen, verlor sie aber
gleich wieder. »Amelie, hör auf! Bleib hier! Hör auf damit! Na, gut. Wenn du es
so willst. Wenn du nicht mitkommst, geh ich eben allein weiter.«
Erst, als sie den Waldrand auf der anderen Seite der
Lichtung erreichte, sah Lena Amelies zarte Gestalt neben sich auftauchen und
konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »So, du hast dich also doch
entschlossen mitzukommen. Jetzt sei aber leise, ja? Wir müssen aus dem Wald
herausfinden und die Polizei rufen.«
Augenblicklich sackten Amelies Mundwinkel ab, und sie
presste die Puppe an sich. Das rötliche Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie
heftig den Kopf schüttelte. »Hn-nein. Josch.«
»Ja, ich weiß. Josua ist dein Freund.«
Ein Lächeln huschte über Amelies Gesicht. »Josch.«
Kein Vogel zwitscherte mehr, als sie den Wald auf der
anderen Seite der Lichtung betraten, und Lena beschlich ein ungutes Gefühl.
Die wehenden Wipfel der Kiefern ließen Sonnenkegel auf
dem Boden tanzen. Die Tannennadeln knirschten unter ihren Füßen.
Lena blieb stehen. Da war ein Knacken. Noch ein
Knacken. Ihr Puls fing an zu rasen.
»Wir machen ein Spiel, ja, Amelie? Du kannst doch
schnell rennen. Sieh mal, da vorn ist der Wald zu Ende. Wir spielen, wer schneller
ist, du oder ich.«
Eine steile Falte bildete sich zwischen Amelies
Augenbrauen. Den Kopf schief haltend drückte sie ihre Puppe an die Brust.
»Hnnn-rennen?«
»Ja. Ganz, ganz schnell.«
Amelies breitlächelnder Mund bedeutete, dass sie verstanden
hatte. Wieselflink huschte sie über das Moos.
Das Rauschen des Meeres drang in Lenas Bewusstsein,
als sie Amelie einen steilen Hang hinabfolgte.
Vom Rande ihres Blickfeldes sah sie plötzlich
katzenhaft schnell einen Schatten herannahen, fühlte das Gewicht eines harten
Körpers gegen sich prallen, hörte ihr eigenes Aufstöhnen, als sie den Halt
verlor, als sie hinfiel, als ein stechender Schmerz durch ihre rechte Schulter
jagte.
Die Wipfel der Kiefern über ihr drehten sich, während
sie, sich die Arme aufschrammend, den Hang hinunterrollte und benommen auf dem
Bauch liegenblieb.
Zwei kräftige Hände drückten ihr das Gesicht in den
Dreck und drehten ihr die Arme auf den Rücken. Neben ihr war ein Knacken, ein
schweres Atmen. Jemand presste ihre Schultern zu Boden, während ein anderer
ihre Hände auf dem Rücken fesselte.
»Hnnn-nicht, Josch. Nicht.« Das war Amelies Stimme.
Josuas Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, als er
Lena auf den Rücken drehte und anblickte.
Neben ihm stand der hagere Ordensbruder, dem sie
gestern im Kerker des Klosterkellers begegnet war, der dort aufgetaucht war,
bevor sie diesem Pater Nathan hatte entkommen können.
Licht und Schatten spielten mit seinen kantigen
Gesichtszügen. Das silberne Kreuz auf seiner Brust schimmerte.
Pater Jerome! Lena starrte ihn an.
Sie kannte diesen Mann, und das nicht allein von ihrer
Begegnung gestern im Keller.
Aber es war nur eine blasse Erinnerung,
ein Fetzen, den ihr Unterbewusstsein an die Oberfläche gespült hatte.
*
Minuten
später stand Pater Nathan in einem Säulengang des unbewohnten Traktes von
Kloster Falzberg und wartete.
Das Zwitschern der Vögel in dem verwilderten Garten
drang kaum in sein Bewusstsein.
Er war Josua und Pater Jerome in den Wald gefolgt und
hatte beobachtet, dass sie Lena überwältigt hatten. Jerome wird sie hierhin
bringen.
Sie würden kommen, und er wartete.
»Sie ist rein«, sagte sein Vater.
Die Stimme hämmerte in seinem Schädel.
Sein Vater war seit mehr als zwanzig Jahren tot.
»Ja, sie ist rein, Vater.«
»Sie ist vollkommen, mein Sohn.«
»Ja, sie ist vollkommen, Vater.«
Fast fünfzig Jahre war es jetzt her,
dass diese Worte gefallen waren, Abend für Abend, wie ein Gebet, aber für ihn
waren sie in jedem Augenblick gegenwärtig –
»Sie
ist rein, Nathan. Frei von Sünde.«
»Ja, das
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