Sanctus
Welt konnte sie ihnen auch nicht die Hände halten.
Ein lokaler Radiosender erstickte den Lärm der Freiwilligen mit Verkehrsnachrichten und Schlagzeilen. Kathryn streckte die Hand aus und nahm eine Aktenmappe vom Beifahrersitz. Auf dem Deckel stand nur ein einziges Wort – Ortus –, und darunter prangte ein Logo: eine vierblättrige Blüte mit der Welt in der Mitte. Die Akte enthielt einen Bericht über die Rekultivierung illegal gerodeter Flächen im Amazonasdelta. Kathryn musste noch heute entscheiden, ob ihre Organisation das finanzieren konnte oder nicht. Zwar erhöhte sich das Spendenaufkommen stetig, doch jedes Jahr wurden der Welt neue Wunden geschlagen, die der Heilung bedurften.
»Und zu guter Letzt«, sagte der Radiomoderator in dem typisch amüsierten Tonfall am Ende einer Nachrichtensendung, wenn zu den nicht ganz so ernsten Themen übergeleitet wurde, »sollten Sie sich heute ins Stadtzentrum von Trahpah begeben, dann machen Sie sich auf eine große Überraschung gefasst – denn jemandem, der wie ein Mönch gekleidet ist, ist es gelungen, die Spitze der Zitadelle zu erklettern.«
Kathryn starrte auf das schmale Autoradio.
»Im Augenblick wissen wir noch nicht, was das Ganze soll«, fuhr der Nachrichtensprecher fort, »vielleicht ist das ja nur ein PR-Gag. In jedem Fall tauchte der Mann kurz nach Sonnenaufgang auf, und jetzt steht er da und streckt die Arme aus wie ... wie ein menschliches Kreuz.«
Kathryn drehte sich der Magen um. Sie schaltete den Motor an und rammte den Gang hinein. Neben einer Freiwilligen hielt sie kurz an und ließ das Fenster herunter.
»Ich muss ins Büro«, rief sie. »In einer Stunde bin ich wieder zurück.«
Das Mädchen nickte. So plötzlich im Stich gelassen zu werden verwirrte sie, doch Kathryn bemerkte das nicht. Ihr Blick war bereits stur nach vorn gerichtet, zu der Lücke in der Hecke, hinter der ein Feldweg nach Trahpah führte.
K APITEL 10
Auf halbem Weg zwischen der sich sammelnden Menge und dem Gipfel der Zitadelle saß der Abt vor dem Kamin. Er war müde von einer Nacht, in der er auf immer neue Nachrichten gewartet hatte, und nun schaute er wieder jemanden an, der etwas zu berichten hatte.
»Wir haben immer geglaubt, die Ostseite könne man nicht erklettern«, sagte Athanasius und strich sich mit der Hand über den kahlen Kopf.
»Nun ja«, erwiderte der Abt, »dann haben wir heute Nacht wenigstens etwas gelernt, nicht wahr?« Er blickte zu dem großen Fenster, dessen blau-grüne Buntglasscheibe im Licht der aufgehenden Sonne zu schimmern begann; doch auch das besserte seine Stimmung nicht.
»So«, sagte er schließlich, »wir haben also einen abtrünnigen Mönch, der auf dem Gipfel der Zitadelle steht und eine äußerst provokante Pose einnimmt, und Hunderte von Touristen und Gott weiß wer noch haben ihn so schon gesehen, und wir können nichts dagegen tun, geschweige denn, ihn wieder zurückholen.«
»Das ist korrekt.« Athanasius nickte. »Aber solange er dort oben steht, kann er auch mit niemandem reden, und irgendwann muss er ja wieder runterkommen. Was soll er sonst tun?«
»Zur Hölle fahren zum Beispiel«, spie der Abt, »und zwar je schneller, desto besser für uns alle.«
»So wie ich das sehe, ist die Situation folgende ...«, fuhr Athanasius einfach fort. Er wusste, dass man die Launen seines Abts am besten ignorierte. »Er hat nichts zu essen. Er hat nichts zu trinken. Es gibt nur einen Weg den Berg hinunter, und selbst wenn er das im Schutz der Nacht versuchen sollte, werden unsere Infrarotkameras ihn erfassen, sobald er die höchste Bastion erreicht. Auf dem Boden haben wir dann Sensoren, und unser Sicherheitsdienst ist angewiesen, ihn festzunehmen. Mehr noch: Er sitzt in dem einzigen Gebilde der Welt fest, aus dem noch nie jemand entkommen ist.«
Der Abt warf seinem Kammerherrn einen besorgten Blick zu. »Das stimmt so nicht«, erklärte er und brachte Athanasius damit erstaunt zum Schweigen. »Es sind durchaus schon Leute von hier entkommen. Nicht in jüngster Zeit, aber ein paar haben es geschafft. Wenn man eine Geschichte hat, die so lang ist wie unsere, ist das wohl ... unvermeidlich. Natürlich sind diese Leute immer geschnappt und zum Schweigen gebracht worden – in Gottes Namen –, zusammen mit jenen, die das Pech hatten, außerhalb dieser Mauern mit ihnen in Kontakt zu kommen.« Er bemerkte, wie Athanasius erbleichte. »Das Sakrament muss beschützt werden.«
Der Abt hatte es schon immer als bedauerlich erachtet, dass
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