Sanctus
neunundfünfzig Wächter anwesend. Drei fehlten.
Die Sonne ging auf, und ihr Licht fiel durch die Rosette über dem Altar. Gott hatte sein großes Auge geöffnet und schaute auf seine treue Gemeinde hinab. Wieder einmal hatte das Licht die Dunkelheit besiegt. Ein neuer Tag war angebrochen.
Athanasius zog mit den anderen Braunmänteln aus der Kathedrale, und seine Gedanken drehten sich nur um das, was seine Entdeckung bedeuten könnte. Er war stets stolz darauf gewesen, den zu Impulsivität neigenden Abt zügeln zu können. Dass plötzlich drei Wächter fehlten, machte ihn nervös – vor allem, weil er die Reaktion des Abts auf Bruder Samuels Tod fürchtete. Und was hatte das für ihn, Athanasius, zu bedeuten?
Indem er ihm am Tag zuvor die Prophezeiung im Verbotenen Gewölbe enthüllt hatte, die das Ende des Sakraments und einen Neuanfang zu verkünden schien, hatte der Abt – so glaubte Athanasius – ihm gezeigt, dass das lähmende Geheimnis sich aufzulösen begann, von dem Athanasius glaubte, es halte die Kirche in der Vergangenheit gefangen. Nun jedoch, so fürchtete der Kammerherr, schien das Fehlen der drei Wächter das Gegenteil zu bezeugen. Der Abt, so schien es, arbeitete keineswegs auf eine erleuchtete Zukunft hin, im Gegenteil: Er kehrte zur mittelalterlichen Gewalt zurück.
K APITEL 55
Liv saß schweigend in dem grell erleuchteten Verhörzimmer.
Sie starrte weiter auf das Bild in der Zeitung, während Arkadian ihr die Einzelheiten erklärte. Als er fertig war, legte er die Hand auf den blauen Aktenordner an seiner Seite. »Ich möchte Ihnen gerne noch ein paar Fotos zeigen«, sagte er. »Wir haben sie vor der Autopsie aufgenommen. Mir ist klar, wie schwer das für Sie sein muss, und ich verstehe vollkommen, wenn Sie das nicht wollen, aber es könnte uns helfen, Samuels Tod besser zu verstehen.«
Liv nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Zuerst muss ich jedoch etwas klären«, sagte Arkadian.
Liv schaute zu ihm auf.
»Sie müssen mich davon überzeugen, dass Sie wirklich seine Schwester sind.«
Liv fühlte sich zu Tode erschöpft. Sie wollte jetzt nicht ihre gesamte Lebensgeschichte durchgehen, nicht so, wie sie sich gerade fühlte; aber sie wollte auch wissen, was mit ihrem Bruder geschehen war. »Ich habe die Wahrheit selbst erst nach dem Tod meines Vaters entdeckt.« Die Dinge, die sie vor acht Jahren herausgefunden hatte, kamen wieder an die Oberfläche, Dinge, die sie für gewöhnlich verdrängte. »Ich hatte damals eine ziemliche Identitätskrise. Ich habe irgendwie nie gewusst, wo ich hingehörte. Ich weiß, die meisten Kids haben irgendwann das Gefühl, nicht zur Familie zu gehören, aber ich hatte auch noch einen vollkommen anderen Namen als mein Vater und mein Bruder. Meine Mutter habe ich nie gekannt. Ich habe Dad einmal nach ihr gefragt, doch er ist stumm geblieben. Später in jener Nacht habe ich ihn dann weinen gehört. In meiner pubertären Fantasie habe ich geglaubt, an irgendein schändliches Familiengeheimnis gerührt zu haben. Ich habe ihn nie wieder danach gefragt.
Nach seinem Tod war ich von dieser Frage wie besessen. Ich hatte nicht nur meinen Vater verloren, sondern auch jede Chance herauszufinden, wer ich wirklich war.«
»Aber schließlich haben Sie es dann doch herausgefunden«, sagte Arkadian.
»Ja«, antwortete Liv. »Ja, das habe ich.«
Sie atmete tief durch und wagte sich weiter in die Vergangenheit zurück.
»Ich hatte gerade mein Journalistikstudium an der Columbia University aufgenommen. Meine erste größere Arbeit war eine investigative 3000-Worte-Story zu einem Thema meiner Wahl, und ich beschloss, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und das große Familiengeheimnis zu lüften. Ich bin mit dem Bus nach West Virginia gefahren, an den Ort, wo mein Bruder und ich geboren worden sind. Es war eine dieser Städte, wie man sie unter ›typisch amerikanisch‹ im Lexikon findet: eine lange Hauptstraße; Geschäfte, deren Markisen über den ganzen Bürgersteig ragen – die meisten davon geschlossen. Die Stadt heißt Paradise. Paradise, West Virginia. Ihre Gründerväter hegten offenbar große Hoffnungen für sie.
In dem Sommer, als wir geboren worden sind, sind meine Mom und mein Dad überall herumgefahren und haben Arbeit gesucht. Sie waren Gartenbaukünstler, ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. Meistens bekamen sie jedoch nur ganz gewöhnliche Jobs als Gärtner, mal für die Stadt, mal auf einer Farm. Sie haben alles angenommen,
Weitere Kostenlose Bücher