Sanctus
dann, dass der Name Ihrer Großmutter anders war als der Ihrer Mutter?«
»Das ist eine alte norwegische Tradition, die allerdings heute nicht mehr verwendet wird. Kinder nehmen den Namen des Vaters an. Grannys Vater hieß Hans; also hieß sie Hansen. Der Name des Vaters meiner Mutter wiederum lautete Adam, woraus dann Adamsen wurde. Als Skandinavier seinen Stammbaum zurückverfolgen, ist wirklich eine Plackerei; das kann ich Ihnen sagen.« Liv schaute wieder auf die Zeitung hinunter. »Sie haben gesagt, Sie wollten mir etwas zeigen, das mir helfen könnte, den Tod meines Bruders zu verstehen«, sagte sie. »Was ist das denn?«
Arkadian trommelte unsicher auf dem blauen Aktenordner. Er neigte dazu, der Frau zu vertrauen, doch noch überwog die Vorsicht.
»Hören Sie«, sagte Liv. »Ich bin genauso begierig darauf herauszufinden, was mit ihm passiert ist, wie Sie. Entweder vertrauen Sie mir jetzt endlich oder nicht – Ihre Entscheidung. Aber sollten Sie sich noch immer wegen meines Berufs Sorgen machen, unterschreibe ich Ihnen jedwede Art von Unterlassungserklärung, die Sie wollen.«
Arkadian stand auf, verließ den Raum und ließ die Akte liegen.
Liv starrte den Aktenordner an. Sie kämpfte gegen das Verlangen an, einen Blick hineinzuwerfen, solange der Inspektor draußen war. Wenige Augenblicke später kehrte er jedoch schon wieder zurück. Er hatte einen Stift und das Standardformular für eine Unterlassungserklärung dabei. Liv unterschrieb, und Arkadian verglich ihre Unterschrift mit der Kopie ihres Passes, die er sich hatte faxen lassen. Dann öffnete er den Aktenordner und schob ihn Liv zu.
Das Foto zeigte Samuels gewaschene Leiche auf dem OP-Tisch in der Gerichtsmedizin. Im hellen Licht trat das Netzwerk von Narben auf seiner bleichen Haut deutlich hervor.
Liv starrte das Bild entsetzt an. »Wer hat ihm das angetan?«
»Das wissen wir nicht.«
»Aber Sie müssen doch mit Leuten gesprochen haben, die ihn gekannt haben. Haben die Ihnen denn nichts sagen können? Haben die Ihnen nicht erzählt, dass er sich in letzter Zeit komisch verhalten habe oder so?«
Arkadian schüttelte den Kopf. »Die einzige Person, die ihn gekannt hat und mit der wir haben sprechen können, sind Sie. Ihr Bruder ist vom Gipfel der Zitadelle gestürzt. Wir nehmen an, dass er schon einige Jahre in ihrem Inneren gelebt hat, zumal es keinerlei Hinweise auf einen Wohnort in der Stadt gibt. Wie lange, sagten Sie, wurde er vermisst?«
»Acht Jahre.«
»Und in all der Zeit hatten Sie keinen Kontakt zu ihm?«
»Keinen.«
»Wenn er also die ganze Zeit über dort gewesen ist, sind die letzten Menschen, die ihn lebend gesehen haben, ebenfalls in der Zitadelle, und ich fürchte, wir werden mit keinem von ihnen reden können. Ich habe zwar einen entsprechenden Antrag gestellt, aber das ist nur eine Formalität. Es wird niemand mit mir sprechen.«
»Können Sie sie nicht zwingen?«
»Die Zitadelle ist unabhängig. Sie ist ein Staat im Staate mit eigenem Rechtssystem. Ich kann sie zu gar nichts zwingen.«
»Auch nicht, wenn jemand gestorben ist?«
»Auch dann nicht«, bestätigte Arkadian. »Allerdings bin ich mir sicher, dass irgendwann eine Erklärung von dort kommen wird. Auch da oben weiß man gute PR zu schätzen. In der Zwischenzeit können wir aber noch in ein paar andere Richtungen ermitteln.« Er holte drei Fotos aus dem Aktenordner und schob Liv das erste hin.
Liv sah ihre Telefonnummer, eingeritzt auf einem schmalen Lederstreifen.
»Das haben wir im Magen Ihres Bruders gefunden. Deshalb haben wir auch so schnell Kontakt zu Ihnen aufnehmen können.« Er schob das zweite Foto über den Tisch. »Aber das war nicht alles, was wir gefunden haben.«
K APITEL 56
Die Straßen ins Verlorene Viertel waren Anfang des 6. Jahrhunderts für Handkarren und Pferde angelegt worden und den Ansprüchen des modernen Verkehrs schon längst nicht mehr gewachsen. Da eine Straßenerweiterung jedoch den Abriss von Häusern bedeutet hätte, was hier keine Option war, hatten die Stadtplaner ein derart komplexes Einbahnstraßensystem entwickelt, dass die Fahrzeuge wie Fliegen durch ein Spinnennetz geführt wurden.
Erdem bekam Albträume davon, mit dem Krankenwagen durch die mittelalterlichen Straßen zu fahren. Laut Vorschrift musste er spätestens nach fünfzehn Minuten am Ort eines Notrufs sein, egal wo in der Stadt. Auch wurde von ihm verlangt, sein Fahrzeug im selben Zustand wieder zurückzubringen, in dem er es in Empfang genommen hatte. In
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