Sand & Blut
zweimal den Motor angeworfen und das Schiff wieder in Position gebracht. Es gab wahrscheinlich eine leichte Strömung, und er wollte natürlich bei der Sandbank bleiben, ohne den Anker werfen zu müssen.
Seit Doreens Tod schien jeder von ihnen in sich zurückgezogen auf bessere Zeiten zu warten. Meike hoffte, dass die Strömung sie gnädig mitnahm und dass Doreen nicht wieder angeschwemmt wurde. Diese Möglichkeit versuchte sie gedanklich zu verdrängen, samt dem Bild, das ihr Gehirn dazu liefern wollte.
Langsam, mit zunehmender Kühle des Abends, grub sich auch die Erkenntnis, dass es so nicht besser wurde, in Meikes Bewusstsein. Dieser Glaube, dieser Anspruch an das Leben, dass man behütet, ja vielleicht sogar bevorzugt wurde, dass man ein Recht auf Unversehrtheit hatte, ein Recht auf alles Mögliche, dieses Gefühl blockierte sie alle. Das Leben hatte mit gezinkten Karten gespielt und nun musste die Gerechtigkeit von selbst zurückkommen und alles wieder ausgleichen. So lief das Spiel. Aber das war eben nur eine infantile, anerzogene Vorstellung. Vincent hatte diese Illusion seit Jahren hinter sich gelassen und das Schicksal selbst in die Hand genommen. Er hatte nicht auf eine göttliche Gerechtigkeit in seinem Sinne gewartet, denn die konnte versagen.
Sieh es als Gottesurteil ... Melanie hat es nicht geschafft
Nein, hatte sie nicht. Ein Baum hatte ihre Heimfahrt beendet. Meike selbst las es in ihrem Schüler-Netzwerk, in dem sie alle Mitglieder waren. Am nächsten Tag nach dem besagten Disco-Abend, tauchte die Meldung dort auf, dass Melanie einen Unfall gehabt hatte. Ohne Beteiligung anderer. Sie war ganz allein auf der Straße verunglückt. Sofort häuften sich die bedauernden Worte und Nachrufe auf ihrem Profil. Ein Eintrag dort fiel ihr wieder ein.
Eine fette Kuh weniger!
Das hatte wirklich dort gestanden. Zwar nur für ein paar Stunden, denn dann löschte jemand den Eintrag, aber wer hatte es fertig gebracht und diesen Satz geschrieben? Meike sah sich um. Konrad saß, mit dem Rücken zu ihr, dem Boot und Till gewandt auf der Sandbank und schien ins Leere zu starren. War er es gewesen? Oder sogar Till? Wie gut kannte sie ihn? Das mit der Grube hatte sie ihm nicht zugetraut. Wenn er so was tat, war er auch fähig, diesen Satz zu schreiben. Meike dachte nach und versuchte sich an eine Situation zu erinnern, in der Till sich selbstlos oder charakterstark verhalten hatte. Auf Anhieb fiel ihr keine ein. Sie teilten sich eine Wohnung, ein Bett, besuchten dieselben Seminare und am Wochenende gingen sie aus, tranken etwas und trafen Freunde. Wie aussagekräftig war das? Das konnte jeder. Aber mehr verlangte das Leben auch nicht von ihnen. Also machten sie immer weiter, Jahr um Jahr. Es war bequem und gesellschaftsfähig. Was sie jetzt fühlte, war schwer zu beschreiben. Er hatte sie jahrelang belogen und sie hatte seine dunkle Seite entdeckt. Meike forschte in sich nach liebevollen Gefühlen für ihren Freund, aber im Moment war da nichts.
Melanie hat es nicht geschafft. Eine fette Kuh weniger. Doreen hat es nicht geschafft. Eine hysterische Kuh weniger. Welche Kuh bist du, Meike?
Meike stand auf und ging zu Till hinüber. Er hockte im Sand und suchte kleine Muscheln. Fand er eine, schmiss er sie ins Wasser.
»Was machst du denn da?«, fragte Meike ihn. Er antwortete nicht. »Du hättest mir das sagen müssen. Warum hast du das nie erzählt?«
»Weils dich nichts anging. Deshalb.« Till warf einen kleinen Stein in die Wellen.
»Wenn es mich nichts angeht, wen dann?«
Till schwieg und sah störrisch an ihr vorbei auf das Wasser.
»Till, das geht so nicht. Wir müssen jetzt was tun. Wir können hier nicht sitzen bleiben.«
»Dann mach du doch was. Ich bleibe hier, bis ein anderes Schiff kommt.« Till nahm eine Herzmuschel und warf sie.
»Und wenn kein Schiff kommt? Wir haben kein Trinkwasser, bis auf den halben Liter von D...« Sie atmete kurz durch. »Die Flasche, die ich vom Boot geholt habe.«
»Die ist leer«, sagte Till.
»Was?«
»Konny hat sie vorhin ausgetrunken.«
»Nein! Ist der wahnsinnig?« Meike lief über den Sand auf die sitzende Gestalt zu.
»Konny! Hast du echt unser ganzes Wasser allein getrunken? Hast du sie noch alle?«
Konrad sah kaum auf. Sein Blick schien am Horizont zu kleben, wo langsam die Sonne unterging.
»Ist doch scheißegal«, antwortete er schließlich.
»Scheißegal. Dir ist das vielleicht scheißegal! Aber ich, ich bin doch nur hier, weil ihr alle Mist gebaut
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