Sand & Blut
zu streng mit dir.«
Meike fühlte Ärger in sich aufsteigen. Einerseits, weil er recht hatte. Sie hatte sich wirklich reifer und umsichtiger eingeschätzt als Doreen, Konny und die meisten ihrer Freunde. Dass Vincent einfach so in sie hinein schauen und ihr diese Gefühle unter die Nase reiben konnte, wurmte sie. Und andererseits, weil er, ein Verbrecher, sich erdreistete, ihre Unzulänglichkeiten als tragbar und normal zu bewerten.
»Ich hab dich verärgert.« Schon wieder erriet er, was in ihr vorging.
Es entstand eine Pause und Meike fühlte, dass sie etwas sagen sollte. Vincent sah sie ein wenig bedauernd an und sein Blick rührte etwas in ihr, das einem schlechten Gewissen gleichkam. Schon wieder erreichte er, dass sie sich fühlte, als ob sie ihm etwas angetan hätte.
Bin ich denn verrückt? Er ist der Mörder.
Sie konnte es nicht fassen, dass er es schaffte, ihre Gefühle so rumzudrehen und das Thema zu wechseln. Aber das ließ sie ihm nicht durchgehen.
»Diese Nummer funktioniert bei mir nicht«, sagte sie schließlich.
Vincent lächelte kaum merklich, aber überlegen.
»Welche Nummer? Ehrlichkeit? Ich war nur ehrlich, mehr nicht. Ich weiß, das ist unüblich. Aber das hab ich mir angewöhnt. Die Dinge beim Namen nennen. Das hat mir schon oft geholfen, die richtige Entscheidung zu treffen.«
»Die richtige Entscheidung, ja? Also war das hier richtig in deinen Augen?«
»Ich weiß nicht. Was ist richtig? Wer legt das fest? Ich gebe zu, dass ich Rachegefühle hatte. Sehr starke sogar. Aber jetzt fühle ich mich schlecht. Es ist kein Triumph. Und ob es richtig war, darüber kann ich gar nicht urteilen. Das werden andere für mich erledigen.«
»Vielleicht gibt es das Richtige nicht mehr«, sagte Meike. »Das Richtige wurde abgeschafft.«
»Ja, gute Formulierung.«
Diesmal stimmte er ihr zu, und bevor sie es verhindern konnte, stahl sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Sofort brachte sie sich wieder unter Kontrolle. Till hätte das an seiner Stelle nicht gesagt. Wahrscheinlich hätte er gar nicht reagiert oder einen spöttischen Kommentar abgegeben. Dass sie mit Vincent besser reden konnte als mit ihrem verstorbenen Freund, das hatte etwas Makaberes. Und sie wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Sie hätte mit Vincent sprechen und sich mit ihm anfreunden können. Ob er dann von seinem Plan abgesehen hätte? Sie schloss das nicht aus. Er war nicht von Grund auf böse. So weit verließ sie sich doch auf ihre Menschenkenntnis. Aber der Zeitpunkt war vorbei. Und warum? Weil sie selbst zu blind durch das Leben marschierte.
Vincent ging zu der Treppe, die nach oben führte. Er drehte sich zu ihr um und Meike sah, wie er sanft seine Finger um den Türpfosten legte, um sich abzustützen. Manche Gesten verrieten mehr über einen Menschen als Worte. In einer normalen Situation hätte sie seine Körpersprache sogar angenehm, ja ... anziehend gefunden.
Falsch.
Dass sie sich innerlich selbst belog und das recht häufig, das wurde ihr langsam immer bewusster. Das Ehrlichste war, dass sie ihn anziehend fand . Aber das konnte sie sich nicht gestatten. Sie konnte ihn nicht mögen, weil das gegen jede Regel und den gesunden Menschenverstand sprach. Vincent behielt schon wieder recht. Man neigte dazu, sich etwas vorzumachen. Sich etwas anders einzureden, als man es empfand. Und was verpasste sie dadurch? Was zog alles unerkannt im Leben an ihr vorbei?
»Ich muss noch die Treppe einklappen«, sagte Vincent fast entschuldigend. »Du solltest vorher in dein Zimmer gehen.«
»Okay«, sagte Meike und fühlte eine leise Enttäuschung darüber, dass er sie fortschickte.
»Und was passiert dann?«
»Du kannst etwas schlafen. Du bist doch sicher erschöpft. Ich werde zu einer der bewohnten Inseln fahren und dich dort absetzen. Ich wecke dich, wenn wir da sind.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Noch was. Ich habe gesagt, ich würde Spaß dabei haben, euch zu beobachten und zu sehen, was mit euch passiert. Aber das stimmte nicht ... ich ...«
Vincent flog nach vorne, als hätte ihn eine Bombe ins Kreuz getroffen. Er stürzte auf den Teppich und dann stand Konny in Badehose über ihm und versetzte ihm einen Haken, dass Vincents Kopf zur Seite geschleudert wurde. Meike sprang auf. Mit einem Satz war Konny hinter dem Tresen, riss alle Schubladen auf und durchwühlte sie.
Meike starrte zu ihm hinüber. Hatte Konny sie überhaupt wahrgenommen? Und wo kam er her?
Vincent stöhnte und bewegte den Kopf
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