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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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Vielleicht sollte ich mir Einzelheiten ins Gedächtnis
rufen, dachte er.
    Gleich
mehrere Einzelheiten tauchten in diesem Moment auf, nicht nacheinander, sondern
aneinanderklebend, zur Traube gebündelt, eine Hand, ein Schuh, ein Tonfall,
ein Gitterzaun an einer Straßenecke, irgendwo in der Nähe der École Militaire.
Bereitwillig folgten die Einzelheiten dem Ruf, die Traube hing vor seinen Augen,
doch er verspürte weder Verlangen noch Durst, eine Beere davon abzureißen.
    Er erschrak
beinahe. Vielleicht bin ich geheilt, dachte er
und setzte sich auf. Vielleicht stimmt es gar nicht. Denn hier ist ja nichts,
überhaupt nichts. Er blinzelte. In diesem Moment packte ihn der Schmerz, dieser
seltsame Krampf zwischen Herz und Magen. Er packte ihn und warf ihn auf das
Bett zurück.
    Das Binokel
fiel ihm aus der Hand. Schlimmer, als ich gedacht habe, fällt ihm noch ein,
halb besinnungslos, mit einer Art glücklichem Entsetzen, daß »doch etwas ist«.
Er zog das Knie bis an den Magen, wie jemand, der sich in Zuckungen windet, und
begann gleichmäßig, leise röchelnd zu hicksen.
    ***
    Viktor Henrik Askenasi war vor vier Tagen
in der alten Stadt eingetroffen; in Spalato war er an Bord gegangen,
ursprünglich hatte er eine noch weitere Reise geplant, bis zu einer der
griechischen Inseln. Doch bereits während der nächtlichen Zugfahrt deutete
einiges auf die Hoffnungslosigkeit dieser Unternehmung hin. Bei der Abfahrt aus
München, wo er drei ruhige, fast verdächtig friedvolle und heitere Tage
verbracht hatte, meist in Gesellschaft von Fachkollegen, von denen er einige
bis dahin nur aus ihren Werken und Briefen kannte, überfiel ihn auf dem Bahnhof
plötzlich der Gedanke, er habe im Hotel etwas vergessen.
    Der
Schreck, den das plötzliche Gefühl des Verlusts auslöste, stand in keinerlei
Verhältnis zu der Bedeutung der Gegenstände, die er auf der Reise bei sich
hatte. Sein Gepäck lag vor ihm auf einer Betonbank des Bahnhofs, der bayrische
Dienstmann hatte es dorthin gebracht, seine große Reisetasche, die Handtasche,
dazu Schirm und Spazierstock, in eine Kamelhaardecke gewickelt, es fehlte
nichts; er betastete seine Taschen, das Portemonnaie, den Reisepaß, seine
Aufzeichnungen, sogar den Fahrplan, alles fand er an seinem Platz.
    Er
vertraute das Gepäck dem Dienstmann an, und weil noch acht Minuten bis zur
Abfahrt des Zuges blieben, ging – nein, rannte er quer über den Platz ins Hotel
zurück, das sich gegenüber dem Bahnhof befand. Ohne sich um die Fragen des
erstaunten Portiers und des etwas unwilligen maitre d’hôtel zu kümmern,
verlangte er den Schlüssel des Zimmers, in dem er die drei friedvollen und
heiteren Tage verbracht hatte, und eilte, anstatt den Aufzug abzuwarten, zu
Fuß, zwei Stufen auf einmal nehmend, in den zweiten Stock hinauf.
    Das Zimmer
wurde bereits gereinigt. Ein Lohndiener stand mit dem Besen in der Hand vor
dem Waschbecken, und das Stubenmädchen bezog das Kissen frisch. Ohne ein Wort
eilte er zum Bett und hob die Decke an, dann machte er sich vor den Augen des
entgeisterten, sodann im Bewußtsein seiner Unschuld mäßig empörten Personals
über die Fächer des Nachttischchens und des Schranks her, kramte in
fieberhafter Eile, warf auch einen Blick unter das Bett, schob die Vorhänge zur
Seite und verrückte das Sofa. Doch er fand nichts.
    Auf die
Fragen des Lohndieners und des maitre d’hôtel , der ihm nachgeeilt war,
antwortete er verwirrt und ausweichend – ja, soweit er sich erinnere, habe er
etwas verloren, doch er wisse es nicht mit Sicherheit, vielleicht habe er es
nicht hier vergessen, sondern sonst irgendwo. Als er die Betroffenheit des
Personals bemerkte, stotterte er einige rechtfertigende Worte, er müsse noch
in seinen Taschen suchen, vielleicht habe er es in der Innentasche seines
Abendanzugs gelassen. Aber er sagte nicht, was es denn war, das er irgendwo
verloren hatte und so verzweifelt suchte.
    Mit
Rückwärtsschritten verließ er den Raum, er schämte sich tief für sein kopfloses
Auftreten, und während er die Treppe hinunterstieg, bat er den Direktor, der
ihm nun bereits stirnrunzelnd und mit strengem Blick folgte, mit einigen wenig
überzeugenden Erklärungen geradezu um Verzeihung. Der Herr könne vollkommen
beruhigt sein, sagte der Direktor, der ihn bis zum Ausgang begleitete; das
Hotel habe einen erstklassigen Ruf, und wenn es sich auch in der Nähe des
Bahnhofs befinde, dürfe man es nicht mit Absteigen für eine Nacht verwechseln,
die von zwielichtigen

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