Sandor Marai
würdiges Mitglied der Gesellschaft gehalten! Manches Mal fragte
sich Kömüves, was Pater Norbert zu seiner jetzigen Lebensweise geäußert hätte.
Lebte er eigentlich im Zustand der Gnade? Sicherlich lebte er das achtbare und
arbeitsame Leben des christlichen Mannes – Pater Norbert befand sich nirgends,
um sein Urteil darüber abzugeben. Und von Kömüves verlangte niemand, in
anderer Weise zu leben, zu glauben und zu zweifeln. Im Amt wurde er hoch
geschätzt, und man sagte ihm eine erfolgreiche Zukunft voraus.
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Jeder fand
es selbstverständlich, daß Christoph Richter werden wollte. Der ältere von
Gabriel Kömüves’ Söhnen hätte gar keinen anderen Beruf wählen können. Als er
sich seinen Kollegen vorstellte, hatte er das Gefühl, in eine vertraute große
Familie zu kommen. Er wurde freundlich empfangen, und man mußte nicht erst einen
Platz für ihn frei machen, er nahm einfach das ihm gebührende Arbeitsfeld in
ihrer Mitte ein. Unter den Richtern des Landes hatte ein Kömüves – einem
familiären Erbe gleich – stets einen traditionellen Platz. Sein Name und seine
Abstammung verpflichteten ihn, die dienstlichen Vorschriften mit besonderer
Sorgfalt einzuhalten. Schritt für Schritt stieg er so die amtliche
Karriereleiter hinauf, und niemand zweifelte daran, daß er einst auch die
höchste Stufe erreichen und vielleicht in seinem sechzigsten Jahr zu den ersten
Richtern des Landes zählen würde. Auch er selbst zweifelte nicht daran.
Hier in
dieser heimischen Welt war ihm alles vertraut: der Ton, die Umgangsformen, die Disziplin,
das Dienstverhältnis und auch das Gesetz, ja, sogar die Einrichtung und die
Atmosphäre der Verhandlungssäle. Es war ihm vertraut wie dem Arzt der
Äthergeruch des Operationsaals, wie dem Priester der Weihrauchduft der Kirche.
Es war seine Welt. Zu Hause, in der väterlichen Wohnung, war alles genau so
gewesen: Auf dem Tisch lagen ständig Akten, Tintengeruch zog durch den Raum,
und auf den Regalen machten sich die in Schweinsleder gebundenen Gesetzbücher
breit; auch sah er hier die von alters her bekannten Gesichter wieder, bärtige,
familiär-vertraute Gesichter, und er hörte Stimmen, an die er sich aus
Kindheitstagen erinnerte.
Es war ihm
oft, als hätte er im Kinderzimmer Prozeßordnung gespielt und müßte jetzt nur
seine Erinnerungen auffrischen. Der Mechanismus der Rechtspflege, dieser
großen und komplizierten Maschinerie, war sicherlich unvollkommen, knirschte
oft und war in den Fugen rostig und verstaubt. Niemand aber wußte Besseres und
Vollkommeneres als Ersatz zu nennen. Man konnte diesen Mechanismus nicht
entbehren, und des Richters Amt war es, ihn mit Seele und Kraft zu erfüllen.
Er wußte sehr gut, daß die Wahrheit
nicht allein aus Buchstaben und Tatsachen bestand. Die trübe und problematische
Welt der Tatsachen veränderte sich erstaunlich im Verhandlungssaal, die Leute
rüsteten sich mit Zerrspiegeln aus, der Zwerg wollte groß wirken, der Dicke
schmächtig und der Magere beleibt.
Vor allem mußte der Richter
maßhalten, um Gerechtigkeit üben zu können, und zur Wahrheit gelangte er meist
durch Schlußfolgerungen. Kömüves brauchte nur wenig mehr zu lernen, erspürte
diese Forderungen des Berufs in seinem ganzen Wesen, die Erfahrung der Väter
reichte bis zu ihm und wirkte in seiner Seele fort. Von Anfang an galt er als
ernster Richter – und er war vielleicht weniger streng als feierlich und förmlich.
Er fragte und verhandelte in kurzen, genau formulierten Sätzen. Er war
zurückhaltend, und Stumpfsinn, Böswilligkeit und Lüge brachten ihn nicht aus
der Fassung. Vor jeder neuen Verhandlung aber betrat er mit Lampenfieber den
Saal. Diese prickelnde Aufregung, dieser andächtige Schauder überkam ihn auch
dann noch, als er auf eine jahrelange Tätigkeit zurückblicken konnte.
Er staunte manchmal über die Gemütlichkeit
und jähzornige Strenge der älteren Richter, denn diese alte Schule schien ihm
mit dem Leben selbst in unmittelbarem Kontakt zu stehen. Es gab Richter, die in
Wut geraten konnten, wenn ihnen Lüge und Unverschämtheit hingeworfen wurden,
Richter, die mit dem Angeklagten oder mit dem Zeugen zu debattieren begannen,
als wäre ihnen eine persönliche Beleidigung widerfahren. Christoph Kömüves
achtete streng darauf, daß solche Leidenschaftsausbrüche die Feierlichkeit
der Urteilszeremonie nicht störten. »Die Kömüves-Schule«, sagten wohlwollend
die alten Richter, als sie die ersten Amtshandlungen des jungen
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