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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Kömüves
beobachteten. Ja, sie lächelten, klopften ihm auf die Schulter und schüttelten
anerkennend den Kopf. Sie hatten noch erlebt, wie sein Vater und Großvater
Recht gesprochen hatten.
    Mit diesem jungen Kömüves wurden die
Gebärden, das Benehmen und die »Schule« auf eine nahezu gespenstische Weise
wieder lebendig. Die beim Stammtisch oder in Gesellschaft an ihn gerichteten
anerkennenden Worte machten Christoph immer wieder verlegen. Er grübelte darüber nach, welche »Schule«
wohl die menschlichere sei. Waren diese alten Richter, die nach so
viel Übung und Erfahrung im ewigen Prozeß der Menschen noch immer teilnehmen
konnten, die ins Wort fielen, brummten, sich erhitzten, der Gerechtigkeit
näher? Wußten sie mehr um das Wesen aller Wahrheit, mehr als er, der von Anfang
an eher steif und formell gewesen war?
    Er war vier Jahre hindurch Assessor
in einem Strafgerichtsrat gewesen, dann wollte es der Zufall, daß ihm die
Rolle eines Scheidungsrichters zugeteilt wurde. Besonders in der ersten Zeit
war er über diese Einteilung sehr erleichtert. Er mußte lösen und trennen und
war nicht gezwungen, strenge Urteile zu fällen. Er hatte das Gefühl, noch nicht
reif genug zu sein, um das erschreckende
Prozeßmaterial einer Welt, die aus Haß, Hunger, Leidenschaft und dunklen
Trieben, aus Mord und Totschlag bestand, auf den wahren und letzten Inhalt hin
prüfen zu können. Was konnte schon ein junger Richter vom Leben wissen? Jeder
Tag, jede Verhandlungsstunde, jeder Zeuge und jedes Geständnis zeigten
ungeahnte Erscheinungen, neue Krankheitsbilder und unbekannte Gebrechen. Oft
standen weißbärtige siebzigjährige Kinder vor dem Richter, oft winselten
greise Jugendliche vor ihm.
    Seine
Lehrjahre fielen in eine Zeit, als die Gesellschaft sich noch nicht von den
Erschütterungen der Revolution erholt hatte. Kömüves bezweifelte überhaupt,
daß sich die Gemüter nach einer solchen Umwälzung, in der kein einziges Ideal
und keine einzige Vereinbarung unverletzt geblieben war, je wieder ganz
beruhigen würden. Es stand wohl fest, daß das Leben sich in ebendiesen Jahren
nach neuen Formen umsah, und man mußte die verzweifelten Handlungen der
Menschen vor diesem Hintergrund betrachten. Es änderte sich alles, die Mode,
die Maschinen, die Vorstellungen, die Ansichten. Was gestern noch gegolten
hatte, war plötzlich unbrauchbar, veraltet und lächerlich geworden. Des
Richters Pflicht aber war nicht, alles zu verstehen, sondern einfach nur:
festzustellen. Dies war es, was die Gesellschaft von ihm forderte.
    Nach dem
großen Erdbeben hatte man die Risse und Brüche der beschädigten Gebäude wieder gekittet, man tünchte die
Fassaden frisch, jeder nahm wieder an seinem alten Schreibtisch Platz, die
Geschäfte wurden geöffnet, die Züge setzten sich in Bewegung, und die Menschen
begannen vorsichtig, den Rahmen ihres Lebens zu verschönern und ihre Stunden
auszuschmücken. Die Gesellschaft wollte beim Althergebrachten verharren, und
doch entströmten den Seelen der Menschen Lava, Rauch und Pech. Sie erholten
sich von der Todesangst und stürzten sich auf das Geld. In den ersten
Nachkriegsjahren bedeutete dieses schmutzige, zerknitterte Papiergeld alles. Es
beherrschte das Gemeinwesen, die Familie, Gefühle und Gedanken – ganz anders
als früher. Denn jetzt bedeutete es nicht mehr Ziel und Wertmesser, es wurde
auch Betäubungsmittel. Und die Leute, ähnlich den Morphinisten, begnügten sich
nicht mehr, sondern wurden unersättlich. Sie logen, betrogen, heuchelten und
mordeten, sahen astronomische Nebelgebilde vor sich, das morsche Gebälk krachte
in allen Fugen, die Zöllner und Schmuggler des Wahnsinns boten das Rauschgift
auf der Straße feil – nun gehe hin und richte! Urteile über den einzelnen, beurteile
den Fall – gehe hin und richte!
    Wie oft dachte er dies in den
Zeiten, da er Strafgerichtsassessor gewesen war. Dazu hätte es heute wohl eines
jener großen alten Richter bedurft, die Priester und Propheten zugleich waren,
die Rechenschaft fordern durften, weil sie frei waren von Zweifeln – aber von
Savonarola war heute nirgends eine Spur. Der
Richter konnte nur noch die Akten zur Hand nehmen, die Klienten hereinrufen
und feststellen. Das war alles, was ihm zu tun übrigblieb.
    Aus diesem Orkan kommend, landete
Kömüves auf der Insel der Scheidungsprozesse, und in der ersten Zeit schien es
ihm, als wäre diese Gegend ruhiger, wenn vielleicht auch dunkler und trauriger.
Hans und Grete konnten nicht mehr

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