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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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miteinander leben! Das waren bittere,
manchmal auch tragische Irrtümer, die letzten Dialoge menschlicher
Trauerspiele, die mit der immer gleichen Gartenszene begonnen hatten und vor
dem Richter endeten.
    Er hatte nur festzustellen, daß zwei
Menschen es nicht mehr ertrugen, gemeinsam zu leben. Meist kamen die Paare mit
dem gleichen Vorwand zum Richter. Einer der beiden nahm die Schuld auf sich,
der Richter aber wußte, daß beide gleich schuldig waren – oder auch keiner von
beiden. Die Schuld lag vielleicht ganz woanders.
    Wenn er die Scheidung aussprach,
hatte er immer das Gefühl, daß menschlicher Wille sich in göttliches Recht
gedrängt habe. Kömüves glaubte an die Heiligkeit der Ehe. Die Ehe war eine
besondere Gnade und Gottes Wille. Man mußte sie hinnehmen wie alles, was von
Gott kam, und sie war nicht anzutasten mit unbefugten Händen. Für ihn war die
Ehe weder eine vollkommene noch eine mangelhafte Institution, für ihn verkörperte
sie jene ethische Form, die der Familie, der Vereinigung von Menschen
verschiedenen Geschlechts, den göttlichen Rahmen gab.
    Eine »vollkommene« Ehe? Ach, alles
wurde verzerrt, woran der Mensch rührte, es war gezeichnet vom Makel und
mangelhaft. Die Menschen hielten auch die zehn Gebote nicht, sie stahlen,
logen, trieben Unzucht, begehrten des Nächsten Habe und Ehegemahl – und dennoch
hätte nur ein Wahnsinniger eine Erneuerung der Gebote fordern können! Das
göttliche Gesetz war vollkommen, der Mensch jedoch gebrechlich und
unvollkommen. Dieser Glaube und diese Überzeugung waren tief in ihm verwurzelt.
Konnten die Menschen die Last der Familie, die Ehe selbst nur schwer ertragen?
Allem Anschein nach war es so. Die Menschen flüchteten aus dem baufälligen
Gebäude der Familie, überall erhoben sich falsche Propheten, Wahrsager
abscheulicher neuer Richtungen, die von Kameradschaftsehen plapperten, die
Probeehe priesen und über die Krise der Ehe Monologe hielten.
    Kömüves
haßte diese Propheten und ihre Anhänger, die nervenschwachen, ängstlichen,
unverantwortlichen und lüsternen Eheleute, die irgendwann vor ihm standen,
den Blick zu Boden senkten und die Pflichten der Ehe von sich wiesen. Was hieß
dies eigentlich: Ehekrise? Es wäre gerade so, als wollte man behaupten, daß
mathematische Wahrheiten sich plötzlich wandelten – A plus B war also nicht
mehr C! Es war, als wollte man sagen, daß Gott sich in einer Krise befinde und seine Gebote nicht mehr gültig
seien. Ja, nach einigen Jahren Praxis als Scheidungsrichter war er fast davon
überzeugt, daß seine Aufgabe die schwierigste aller richterlichen Aufgaben war.
Hatte er doch als Unbefugter einen Bund zu lösen, den Gott allein lösen
durfte.
    Wie Schemen zogen die Menschen an
ihm vorüber, Jahr für Jahr, Tag für Tag. Sie logen und beteuerten, sie sahen
einander oft nicht in die Augen und schämten sich vor den Augen des Richters.
Sie heuchelten Tugend und Sünde, nahmen Schmach und Laster auf sich – sie
wollten sich nur noch trennen und einem Zustand entfliehen, den sie als
Gefangenschaft und unerträgliches Elend empfanden. Und der Richter trennte,
den Möglichkeiten der Gesetze entsprechend. Doch senkte auch er bescheiden das
Haupt beim Urteilsspruch, weil er wußte, daß seine Worte nur menschliches
Gesetz kündeten und nicht eins waren mit dem Geist des göttlichen Gesetzes.
Während dieser verworrenen Jahre hatte der Scheidungsrichter viel zu tun. Die
gescheiterten Ehepaare standen mit ihren Nöten vor dem Richter Schlange, sie
beeilten sich, das Joch abzuschütteln, der Verhandlungssaal glich einem
Massensprechzimmer, der Ordination eines Nervenarztes, der von nicht mehr ganz
zurechnungsfähigen Menschen angefleht wurde, sie von ihren Zwangsvorstellungen
zu befreien.
    Manchmal hatte Kömüves das
Empfinden, von allem irdischen Übel zu wissen. Aus den Akten der Prozesse ergaben sich die
eindeutigen Anzeichen dafür, daß die Familie kränkelte – man konnte es mit
ähnlicher Gewißheit behaupten, mit der man aus dem Blutstropfen auf eine
Krankheit zu schließen in der Lage ist, die den ganzen Organismus befallen hat.
Oft war er davon überzeugt, daß jede Krise, jede Revolte, jedes politische
und soziale Verbrechen einem derart winzigen Nährboden entstammte: dem Akt
eines Scheidungsprozesses, der bezeugte, daß Hans und Grete nicht mehr
miteinander leben wollten, wie das Gebot es befahl.
    Ja, die Familie machte eine schwere
Krankheit durch – man predigte im Parlament, auf den Plätzen und

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