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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Steinmauer stand. Ein Weinglas in der Hand, machte er
einer nicht mehr jungen vollbusigen Dame in weißer Seidenbluse, mit stark gewelltem
Haar, den Hof. Er erkannte alles, wie man sein eigenes Heim zur Kenntnis nimmt,
und die Befangenheit der Ankunft ebbte ab. In einer Ecke des Wohnzimmers
erblickte er den Hausherrn, der bei Wein und Zigarren mit den zwei ältesten und angesehensten
Gästen, dem Senatspräsidenten und einem berühmten Anwalt, im matten Kreis der
Stehlampe saß. Er ging auf sie zu und erfreute sich der brüderlichen, wohlwollenden
Herzlichkeit, mit der die Alten ihn sofort aufnahmen.
    Ja, dies hier war die Familie! Sie
war nicht gut und nicht schlecht, und man durfte sie nicht kritisieren. Man
hatte sie zu ertragen, bildete sie doch eine unlösbare Gemeinschaft. Mit körperlichem
Wohlbehagen ließ sich Christoph in dieser Geborgenheit nieder. Die Stimmung
war schon durch Wein gehoben. Im Nebenzimmer spielten die jüngeren Gäste Karten
und hörten Schallplatten. Christoph betrachtete sie und dachte: die Jugend!
Und indem er sich so von ihnen absonderte, fand er, daß seine achtunddreißig
Jahre ein sehr reifes Alter seien. Bis zum vierzigsten, fünfundvierzigsten
Lebensjahr – so meinte er – mußte der Mensch das Leben schon erfahren haben.
Man mußte deshalb nicht weise geworden sein, und das Wissen brauchte auch
durchaus nicht befriedigend zu sein, aber bis dahin hatte man schon Menschen kommen
und gehen sehen, Tote betrauert und Wiedergekommene begrüßt – das Leben
wiederholte sich, und doch ereignete sich nichts so, wie man es erwartet
hatte. Aber letzthin gab es doch nur eine einzige große Überraschung im Leben:
den Augenblick, da man gewahr wurde, daß man sterblich ist.
    Diese Entdeckung hatte Christoph
schon hinter sich. Der beschämende,
glücklicherweise rasch vorbeigehende Zustand körperlicher Schwäche, der ihm vor
Augen führte, daß auch mit ihm jederzeit etwas geschehen könnte. Er sann vor
sich hin – vielleicht würde das, was geschehen könnte, nicht einmal schlimm
sein –, und jedenfalls würde die Welt auch weiterhin bestehen, gleich dem Rund
eines Glasauges, das auch die Wolken, Häuser und Gesichter der Menschen festhält,
wenn sein Träger schon tot ist. Er zündete sich eine Zigarre an und lauschte.
Die Jugend im Nebenzimmer sagte laut den Rang verschiedener Kartenblätter und
tanzte zu den Klängen einer unanständig-sehnsüchtigen südamerikanischen
Harmonikamusik. Christoph saß gleichsam am anderen Ufer und hörte der schamlos
wimmernden, schmachtenden, lockenden und abweisenden Musik zu. Er hatte das
Empfinden, daß sich alle jene scheiden ließen, in denen diese Musik Begierden
weckte. Dann lächelte er ein wenig ärgerlich, weil er sich dieser willkürlichen
und wohlfeilen Verallgemeinerung schämte. Diese Jugend gehörte doch auch zur
Familie – aber was wußte er von ihr? Er blinzelte argwöhnisch zu ihnen hinüber
und wandte sich darauf mit Vertrauen den Alten zu.
    Die Alten unterhielten sich behutsam
und wortkarg. Der Senatspräsident winkte Christoph mit vertraulicher Geste zu,
gab ihm Feuer und betrachtete ihn liebevoll. An Christophs Ausbildung hatte
auch er mitgewirkt, und so war er stolz auf ihn. Seine Reife, seine
Vorsicht und Bedachtsamkeit, seine unbedingte Zugehörigkeit zur Zunft, zur
Familie, die Anerkennung der Würde und die Disziplin – in alldem hatte sich
Christoph ihnen vom ersten Augenblick angepaßt und so die Zuneigung des alten
Richters erworben. Christoph war ein Familienmitglied, dem man die geheimen
Kunstgriffe der Praxis ruhig anvertrauen durfte, man durfte ihn einweihen,
denn sein Kinderzimmer war schon von Prinzipien durchtränkt, die das Fundament
der Glaubenssätze des sozialen Zusammenlebens bildeten. Und dennoch
betrachtete der alte Richter den jungen mit einem sinnenden, abwägenden Blick
durch die Schleier des Zigarrenrauchs. »Er ist ein wenig zu pedantisch«, dachte
er. »Die Korrektheit in Person! Noch nie habe ich ihn beschwipst gesehen, noch
nie hat er eine unbedachte Bemerkung gemacht.« Der Senatspräsident war nahe an
die Siebzig und hatte schon sehr viel gesehen. Er glaubte, die Menschen gut zu
kennen. »Er gibt so peinlich acht auf sich«, dachte er nun von Christoph, »wie
einer, der an Zweifeln leidet. Dieser Mann aber soll nicht zweifeln – er ist
ein Erbe.« Er wußte alles über Christoph, kannte sein Familienleben, ließ ihn
im Amt manchmal zu sich rufen und fragte ihn in

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