Sandor Marai
freundschaftlich-vertrauter
Weise nach seiner Meinung. »Vielleicht spüre ich den Katholiken in ihm«, erwog
er, und er zerstreute die Rauchwolke bedächtig, als wollte er Christoph noch
genauer ins Auge fassen. »Den vergebenden
Katholiken, den, dessen Reich nicht von dieser Welt ist.« Der Senatspräsident
war Protestant und in einer der berühmten charakterbildenden protestantischen
Schulen erzogen worden – »Jetzt aber handelt es sich um dieses ›Reich‹ und um
›diese Welt‹!« dachte er weiter.
Ja, dieses Reich war für beide, für
den alten und den jungen Richter, gleich kostbar. Der alte Richter hatte für
den programmatischen Patriotismus nicht viel übrig. Ihm bedeutete das Land das
Leben selbst. Und man mußte es retten, jeder an seinem Platz. Es handelte sich
um die Bäume, die Felder und die Menschen, die in diesem Land lebten – mit
einem klugen und prüfenden Blick betrachtete er Christoph noch einmal. »Er
soll nicht erschlaffen«, dachte er, »er gehört zur Elite.«
Unvermittelt begann der
Senatspräsident vom Prozeß des Tages zu sprechen, von einem sehr bekannten
politischen Prozeß, der seit Wochen das Publikum beschäftigte. Die
Verhandlungen wurden in der Presse täglich in auffallenden Berichten erörtert.
Der Beschuldigte, ein hochrangiger Bezirksbeamter, Sproß einer hervorragenden,
vornehmen Familie, war im Amt auf Abwege geraten. Bei der Verhandlung war er
völlig zusammengebrochen. Das Urteil hatte das Publikum beunruhigt, die
Zeitungen trommelten diese Unruhe laut und lärmend in die Welt, und der
Schuldspruch hinterließ Bestürzung und Unzufriedenheit.
Der Senatspräsident erwähnte den
Prozeß, lehnte sich dann in den Stuhl zurück und schwieg, als erwarte er, das
Recht zur Rede erteilend, ein höheres Urteil, eine Kritik. Alle drei – der
Hausherr, der Anwalt und Christoph – sahen ihn erstaunt an, war es doch sonst
nicht seine Gewohnheit, eine Debatte über einen Richterspruch herbeizuführen.
Jetzt schien er dieses Gespräch geradezu zu erwarten. Sein großer Körper
machte sich, bequem zur Seite gelehnt, im Sessel breit – seine schlechten
Zähne kauten an der Zigarrenspitze, die feinen Finger seiner leberfleckigen,
mit einem Wappenring geschmückten Hand hielten lose die Zigarre, und die
klugen, müden Augen blickten aufmerksam zur Decke empor. Alle schwiegen
verwirrt.
Dann begann der Hausherr zu
sprechen, stimmte dem Urteil zu und unterstützte seine Stellungnahme mit
umsichtigen Argumenten. Der Hausherr war ein Flüchtling aus Siebenbürgen und
lebte erst seit zehn Jahren in der Hauptstadt. Er war Leiter der
Staatsanwaltschaft in einer der großen Provinzstädte des alten Königreichs gewesen,
übersiedelte nach dem Zusammenbruch nach Ungarn, ging in Pension und lebte
fortan sehr zurückgezogen. Dieses alte stockige Haus in Buda war ein Erbe
seiner Frau, einer Gräfin aus Siebenbürgen. Wie alle Menschen, deren Karriere
durch äußere Gewalt oder brutales Mißgeschick unterbrochen wurde, quälte auch
diesen einstigen Staatsanwalt eine stille Eifersucht seinen Berufsgenossen gegenüber, obwohl er
durchaus einsah, daß er damit im Unrecht war, denn hier, in der großen Familie,
war ihm jeder zugetan, er hatte sich vom Staatsdienst zurückgezogen, hätte
aber jederzeit, wenn er nur gewollt hätte, noch weiterdienen können.
Er sah dies
alles ein, wurde aber doch von stärkeren Regungen, als es Vernunft und
Einsicht waren, dazu veranlaßt, die Erfolge von einstigen Berufsgenossen
eifersüchtig zu bewundern und das Gefühl zu haben, daß sehr vieles nicht in
Ordnung sei – als ob ohne ihn die Anklage keine Anklage und das Urteil kein
Urteil wäre. Er sprach leise und gedämpft. Ja – er stimmte dem strengen Urteil
zu. Denn er hätte Milde wohl verstehen können, wenn ein Kassier sich vergangen
hätte, ein Privatbeamter, jemand also, den nur seine Umgebung oder sein
Arbeitgeber hätte zur Rechenschaft ziehen können. Dieser hochgestellte Herr
jedoch, dieser Staatsbeamte, dem die Stellung nur ein nobile officium zu bedeuten
vermochte – diese lateinischen Worte sprach er scharf artikuliert, fast
hochmütig aus –, dieses Blut aus ihrem Blut, durfte nicht irregehen. Seine
Schmach fiel auf sie alle zurück, auf die Mitglieder der höheren
Gesellschaftsklasse, die ein Amt bekleideten. So erhob er die Anklage und
sprach Urteil. Der Verteidigungsanwalt hüstelte, der Senatspräsident ließ den
Kopf auf die Brust sinken, als schliefe er.
»Und du,
Christoph?« fragte
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