Sandor Marai
dann der alte Richter
unvermittelt und scharf. Seine Augen blitzten zu Christoph hinüber gleich dem
Blick eines Raubtiers, das aus seinem faulen Schlummer aufgeschreckt wurde. Der
alte Mann war jetzt hellwach und lehnte sich interessiert vor. Dieses
schläfrig-träge Schauen, das sich in einen zwingenden Blick umwandelte, dieses
unerwartete Aufblitzen konnten nur wenige ohne Erschütterung ertragen, und es
verwirrte auch Christoph. Seit ihrer Bekanntschaft war dies der erste
Augenblick, in welchem der verehrte und angesehene ältere Kollege gewissermaßen
eine Kritik, eine persönliche Stellungnahme von Christoph forderte. Alle, die
im dämmrigen Lichtkreis der Stehlampe saßen – der Richter, der Staatsanwalt,
der Anwalt –, wandten sich jetzt ihm zu. Sie empfanden, daß dieser Augenblick
bedeutungsvoll war – sie erwarteten Christophs Äußerung, die Erwiderung des jüngeren
Mannes, der ihr Nachfolger war. Würde er ihre Überzeugung unbedingt und
kompromißlos auf sich nehmen?
Christoph
sah nervös um sich. Auch er empfand die Bedeutung des Augenblicks. Er wußte,
daß es Momente gibt, die unerwartet eintreten und das tiefste Wesen des
Menschen enthüllen – es war die scheidende Generation, die ihm jetzt in die
Augen sah, bevor sie ihm den Platz übergab. Christophs Blick blieb auf dem Antlitz
des alten Richters haften, und ihre Augen begegneten einander. Christoph kannte das
Prozeßmaterial, wußte vom politischen Hintergrund des Skandals, er verstand und
überblickte die peinliche Verwicklung und kannte auch den passiven Helden
dieses Falles.
Während er die Antwort überlegte und
die Worte zur einzig möglichen Erwiderung suchte, hörte er überrascht seine
eigene, müde, farblose Stimme sagen: »Das Urteil ist von unbilliger Härte.«
Das war eine kurze und stumpfe Antwort. Der alte Richter rührte sich nicht, gab
kein Zeichen, pflichtete nicht bei und widersprach nicht. Er betrachtete
Christoph aufmerksam und höflich, legte dann seine Zigarre langsam auf den
Aschenbecher, verschränkte die Hände über dem Magen, legte sich wieder in den
Sessel zurück und schloß müde die Augen, als wäre er im Begriff einzuschlafen.
Christoph saß eine Zeitlang stumm, als erwarte er eine Entgegnung. Aber niemand
sprach.
Da stand er auf, verbeugte sich und
ging. Noch an der Schwelle der Tür zum Nebenzimmer fühlte er den starren Blick
der drei Männer im Rücken.
8
An der Schwelle mußte er
stehenbleiben. Ein kleiner Schwindel überfiel ihn, und er hielt sich aufrecht,
mit der Miene des Gastes, der die anderen zwanglos betrachtet. Es war jenes
nervöse Schwindelgefühl, das ihm schon bekannt war – er holte tief Atem, langte
nach dem Taschentuch, trocknete sich die Stirn und lehnte sich leicht gegen
die Tür. Nein, er mußte sich nicht setzen, mußte nicht um Wasser bitten, mußte
nicht nach Hause gehen, einen Wagen kommen lassen und Hertha zu sich winken. Es
war nur ein kleiner Schwindel, der einem kurzen, schrillen Klingeln glich – dem
scharfen Ton einer Alarmglocke –, und nun war es auch schon wieder hell, jeder
war auf seinem Platz geblieben, keiner war auf ihn zugelaufen. Niemand hatte
etwas bemerkt.
Christoph lächelte vorsichtig und
höflich, atmete auf und nahm sich vor, vielleicht eine Kleinigkeit zu essen
und ein Glas Wein zu trinken, nachher zu seiner Schwester und Hertha zu gehen,
sich neben sie zu setzen und während des Abends nicht mehr von ihrer Seite zu
weichen. Er wollte früh nach Hause gehen. Der Anfall war Gott sei Dank vorüber,
er spürte wieder das Blut behende und warm in seinem Körper kreisen, und die
Farbe war in seine Wangen zurückgekehrt. Aber er blieb trotzdem noch eine
Weile in lässiger, wie er meinte, weltmännischer Haltung in der Tür stehen und
sah sich um wie jemand, der in seiner Platzwahl noch unentschlossen ist.
Ja, es war
ein für ihn beschämendes, erniedrigendes Gefühl, manchmal war er davon überzeugt,
daß selbst ein jäher Untergang besser wäre als diese Schande. »Nichts konnte
wohl erniedrigender sein, auch das Geständnis nicht«, dachte er plötzlich.
Geständnis? Welches Geständnis? Wem war er ein Geständnis schuldig? Sein Leben
war doch ohne Geheimnisse ..., und er begann zu lächeln. Auch wenn er in ebendiesem
Augenblick sterben müßte, würde kein Geheimnis zurückbleiben, der Staatsanwalt
würde kein Prozeßmaterial vorfinden, man könnte die Aufzeichnungen seiner
Notizbücher durchlesen und seine Briefe überprüfen, er, Christoph, hatte
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