Sandor Marai
keine
Geheimnisse. Hertha würde weder in seinen Taschen noch Schubladen Heimliches
entdecken können. Sein Leben war – wie pflegte man doch zu sagen? – »ein
offenes Buch«. Der Ausdruck war albern, und Papiergeschmack haftete ihm an.
Das Leben hatte mit einem Buch sehr wenig zu tun. Warum empfand er dieses
qualvolle Schamgefühl? Weshalb denn schämte er sich? Es war, als hätte er
Angst, daß etwas zum Vorschein kommen könnte – jetzt,
sofort –, irgend etwas, was nicht mehr gutzumachen war.
Und da war nun auch dieser Schwindel
schon wieder – das Blut wich aus dem Kopf, kalter Schweiß bedeckte die Stirn.
Wenn nur Hertha jetzt nicht herüberblickte, es mußte ja bald alles wieder in
Ordnung sein. War es möglich, daß dieser Störung, diesem Kurzschluß, ein Sinn
oder eine Bedeutung zukam? Was hatte sich heute ereignet – oder gestern? Oder
vor einer Minute?
Vielleicht hätte er eine andere
Antwort geben müssen, aber es gab Augenblicke, da konnte man keine »andere«
Antwort geben, der mechanische Lautsprecher der Seele rief immer nur dieselbe,
die einzige Antwort, die vom Charakter diktiert wurde. Auch Pater Norbert hatte
von diesem Zwang gewußt. Es gab irgend etwas Unabänderliches im Menschen.
Charakter? Was war das eigentlich? Warum sollte der Charakter mehr bedeuten als
die Instinkte, der Verstand, die amtliche Stellung, die Rolle, die Herkunft –
mehr als alles andere, was er, Christoph Kömüves, für die Welt vorstellte?
Unlösbare Fragen.
Einige Minuten später ging er in den
Garten und setzte sich neben Hertha, seiner Schwester gegenüber. Dann schloß
sich auch der Bruder dem Familienkreis an. Karl diente jetzt in der Provinz,
ohne Aussicht, in nächster Zeit in die Hauptstadt versetzt zu werden. Sie
hatten einander schon ziemlich lange nicht
gesehen. Emma, ihrer beider Halbschwester, kam auch oft wochenlang nicht von
zu Hause fort, sie wohnte ziemlich entfernt in einer Gartenvorstadt von Pest,
in einer kleinen Villa, die sie durch Abzahlung hatte bauen lassen. Ihr Leben war
von den Ansprüchen und Krankheiten der Kinder völlig ausgefüllt. »In die Stadt
zu gehen« bedeutete ein Ereignis für sie, ein Fest; eine halbstündige
Straßenbahnfahrt empfand sie regelrecht als Reise, nie besuchte sie ein
Theater oder eine Gesellschaft.
Christoph betrachtete seine
Schwester aufmerksam. »Brüderlein« setzte sich also auch unter den Nußbaum,
nun waren sie alle hier für sich allein – das war wohl ein wenig unpassend,
denn es hatte nahezu den Anschein, als hätte sich innerhalb der großen Familie
ein Stamm aufgelehnt und hielte Rat. Hertha blickte Christoph an, wandte sich
aber sofort wieder ab. Sie hatte also nichts bemerkt. Ihre Gleichgültigkeit
beruhigte ihn zwar, schürte aber auch einen eifersüchtigen und gekränkten
Protest in ihm. Eigentlich gehörte es sich von Hertha, einen »solchen« Tag an
ihm zu erspüren. Wozu Worte? Sollte er klagen? Was für einen Wert konnte eine
menschliche Verbindung schon haben, wenn Hertha das nicht fühlte. Nun, sie
fühlte es eben nicht – sie sprachen über Kinder und über die Schule.
Seine Schwester saß aufrecht, in
ihrem mageren Körper war nichts locker, all ihre Gesten waren
beherrscht. »Ich weiß nichts über sie«, dachte Christoph beinahe erschrocken,
und er betrachtete sie weiterhin, wie sie, die Hände im Schoß gefaltet,
freundlich und damenhaft unter dem Nußbaum saß, für jedermann ein Lächeln hatte
und in fertigen und nichtssagenden Wendungen plauderte. Mit immer stärker werdender
Bestürzung vertiefte sich der Gedanke, daß er nichts von ihr wußte. Gerne hätte
er ihre Hand oder ihre Schulter berührt und sie gebeten: »Sprich von dir, sage
endlich etwas!« Leer und freundlich lächelten ihre blauen Augen, und Christoph
spürte, daß diese Seele sich verschlossen hatte. Emma gab jedem, was von ihr
erwartet wurde: Gott, der Familie, dem Vater, ihrem Mann und ihren Kindern.
Jetzt
schien sie schon entfernt zu sein von allem und jedem, von Erinnerung und
Gegenwart, von den Geschwistern, dem Gatten und vielleicht auch von ihren
Kindern. Es war oft, als lebe sie in einem anderen Teil der Welt. Sie »tat ihre
Pflicht« – selbstverständlich und bereitwillig. Vielleicht kam sie einem ganz
bestimmten menschlichen Ideal sehr nahe. Nie wußte man, was sie eigentlich
erhoffte, sie nahm alles auf sich, was das Dasein gab, sie hatte geduldet, von
den grauen Nonnen erzogen zu werden, sie ertrug ihren Mann, diesen
wichtigtuenden
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