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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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entschwundenen Jugendzeit auftaucht. »Er ist tatsächlich alt geworden«,
denkt der Richter nun, und sie betrachten einander lange. Greiner steht
gebeugt, die Hände hängen schlaff, der Oberkörper neigt sich vor – und er
wendet den Kopf mit einem bittend-hilflosen Blick ein wenig zur Seite.
    Das vertraute Gesicht ist grau und
ernst. So ernst, als hätte eine Hand jede Leidenschaft aus diesen Zügen
gestrichen, so ernst wie das Antlitz einer Mumie. Christoph erwartet das erste
Wort – eine Entschuldigung, den höflichen Ausdruck des Bedauerns, irgend etwas,
was sich in einem solchen Fall schickt –, er erwartet die banale Phrase, die
ihm über diesen ersten Augenblick hinweghelfen soll. Aber er wartet vergeblich.
Das erste Wort kommt nicht. Sie stehen und schauen einander ohne Begrüßung an.
    »Wer ist denn das?« fragt sich
Christoph erschrocken. »Wer ist denn dieser Mann? Was ist mit ihm geschehen?
Warum schweigt er? Ich wußte nicht, daß man in diesem Ausmaß schweigen kann
...«
    Er erwartet noch immer die höfliche
Phrase und bereitet sich schon auf die Antwort vor. Er würde sehr zuvorkommend
sein, natürlich nur soweit es die Umstände zulassen, aber er erwartet
selbstverständlich eine Erklärung; die Jugendfreundschaft berechtigt den Mann
durchaus nicht, nachts in fremde Wohnungen einzudringen. Als sich jedoch die
entschuldigende Phrase noch immer verzögert und Imre Greiners
bittend-eindringlicher Blick nicht nachläßt, begreift Christoph, daß dieser
Mann ein Anrecht hat, jetzt, mitten in der Nacht, vor ihm zu stehen. Und da er
ein Anrecht darauf hat, vermag man nichts dagegen zu tun.
    »Ich muß dich sprechen«, sagt Imre
Greiner, reicht ihm
aber nicht die Hand. Er verneigt sich nur leicht und zerstreut. Diese korrekte
Gebärde beruhigt Christoph. Die Reflexe des guten Benehmens funktionieren also
noch. Er eilt zum Besucher und gibt ihm verlegen und steif die Rechte. Doktor
Greiner beachtet den Händedruck kaum und läßt Christophs Hand sofort wieder los
– ein wenig ärgerlich wie jemand, dem es klar ist, daß sogar in dieser Stunde
gewisse Konventionen wichtig sind, und mit einer etwas unwilligen Miene beginnt
er jetzt auch zu reden.
    »Natürlich erinnerst du dich
meiner«, sagt er kategorisch, »Imre Greiner, ich saß sechs Jahre lang hinter
dir in der dritten Bank.« Diese eigentümliche und grundlose Genauigkeit, die
doch zu dieser Stunde nicht unbedingt am Platz zu sein scheint, regt Christoph
auf. Nun hat er endlich den Vorwand gefunden, um entrüstet zu sein – das ist
doch wirklich eine Anmaßung, zur Mitternacht in einer fremden Wohnung von der
»dritten Bank« zu reden!
    Kalt und
hochmütig blickt Kömüves auf den Besucher. »Ja«, sagt er, »Doktor Greiner – womit
kann ich ...« Der Arzt wird plötzlich höflich, beinahe demütig. »Bitte, nicht
so«, sagt er sehr leise. »Ja, ich fühle, daß ich doch alles sagen muß, was in
solchen Fällen üblich ist. Scheinbar geht es nicht anders.« Er atmet schwer und
fährt leise fort: »Entschuldige mich, du kannst dir denken, daß ich zu dieser
Stunde nicht bei dir eingedrungen wäre, wenn es auch anders
... Wenn es auch sonst möglich gewesen wäre ... Ich meine ... irgendeine Lösung
...« Er ringt nach Worten, nach fertigen und glatten Wendungen, und man merkt,
daß er ein wenig angewidert ist von diesen Gemeinplätzen. Wie jemand, der
gezwungen ist, sich regelrecht zu verneigen, bevor er in den Abgrund springt,
denkt Christoph.
    Stockend beginnt der Arzt zu reden,
als müsse er während des Sprechens großen Widerstand überwinden, aber
schließlich setzen sich die Worte doch zu Sätzen, zu mehr oder weniger gelungenen
Höflichkeitsphrasen zusammen. »Es wäre natürlich richtiger gewesen, dich im Amt
zu sprechen. Ich war auch dort, ich glaube, es war gegen sieben Uhr.« Dieses
unschlüssige »Ich glaube« erschüttert Christoph. Es klingt, als würde jemand
versonnen sagen: »Ich glaube, am Vormittag habe ich noch gelebt – ich war
einmal in Amerika.« Was war mit diesem Mann geschehen? Allem Anschein nach ist
er doch völlig normal – oder nicht? Christoph empfindet plötzlich die
wohlwollende Überlegenheit des gesunden Menschen, seine feindlichen Regungen
sind geschwunden. Er sieht nur noch den Schwächeren, den Bedauernswerten, den
Freund, der verunglückt ist – denn dies ist er wohl, und daher muß man ihm
helfen.
    »Bitte, nimm Platz«, sagt der
Richter schnell und bereitwillig. »Sicherlich hast du einen triftigen

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