Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
Vom Netzwerk:
Gefühl, daß auch jetzt und hier
verhandelt werden müsse, auch wenn es regelwidrig sei. Stirnrunzelnd betrachtet er dieses regelwidrige Leben,
das nachts in das Zimmer des Richters eindringt und solche Verhandlungen
heraufbeschwört. »Ein Mensch«, denkt er und sieht auf Imre Greiner. »Jetzt wird
er erzählen. Wird auch er lügen, sich abquälen und leugnen, wie andere es tun?
Ach, wie immer die Menschen sich auch mühen, am Ende muß ein jeder bekennen. Es
gibt Hauptverhandlungen, in denen jeder die Wahrheit bekennen muß, aber
freilich finden diese Sitzungen nicht immer vor Gericht statt.« Und leise
hustet er, als wollte er sagen: »Ich eröffne die Verhandlung.«
    Bei diesem Geräusch hebt der Arzt
den Blick. »Sie starb gegen acht Uhr früh«, sagt er vertrauensvoll und ohne
Betonung. Mit diesem Gleichmut spricht man nur über Unabänderliches. Der
Richter kennt diese Stimmlage und horcht auf. »Jetzt liegt sie in meiner
Wohnung, im Sprechzimmer. Sie ist keine schöne Tote. Die meisten Menschen
werden schöner, wenn sie tot sind. Aber diese zyanotischen Todesfälle ... Ja,
als sie kam, war sie sehr schön. Ich erinnere mich nicht, sie jemals so schön
gesehen zu haben. Seit sechs Monaten habe ich sie nicht gesehen. Am Abend rief
sie mich an. Sie möchte kommen und noch etwas mit mir besprechen, die
Verhandlung finde ja übermorgen statt ...
    Vielleicht
hätte ich stärker sein sollen. Hätte ich doch ihrem Wunsch nicht nachgegeben –
ich hätte verreisen sollen, ich hätte ja nur fortzugehen brauchen –,
vielleicht würde sie dann noch leben. Aber als ich ihre Stimme
vernahm, hielt ich es für besser, vorher mit ihr zu sprechen. So schwach ist
man. Ich glaubte, die morgige Begegnung wäre erträglicher, wenn ich Anna vorher
sehen würde. In den letzten Tagen dachte ich oft an diese Begegnung – du
würdest oben auf dem Podium sitzen, und wir, Anna Fazekas und Imre Greiner,
würden vor dir stehen. Und eben du, Christoph Kömüves, würdest das Urteil
fällen und erklären, daß wir fortan nichts mehr gemeinsam hätten.«
    Dieses
»Eben du« gefällt dem Richter nicht, seine Finger spannen sich nervös, nun
möchte er protestieren. »Oho«, möchte er sagen, »so weit sind wir noch nicht –
so weit werden wir auch nie sein. Nur keine persönlichen Bemerkungen, wenn ich
bitten darf. Warum eben ich?« Diese stumme Frage schwebt zwischen ihnen, und es
ist nicht die einzige stumme Frage. »In einigen Stunden ist es um mich
geschehen«, sagt der Arzt, »ich meine, in einigen Stunden wird jene merkwürdige
Konstruktion, die man Gerichtsverfahren nennt, zu funktionieren beginnen.
Verhör. Ein Beamter, der nur das über mich weiß, was ich und die Tatsachen ihm
verraten, prüft die Angaben, stellt Fragen, ich beantworte sie, dann
erscheint eine Kommission an Ort und Stelle – Anna liegt dort in der Wohnung.
Und dann? Was geschieht dann? Ich werde alles sagen, was aber können sie mir
schon antworten? Die Antwort muß mir ein anderer geben.«
    Er redet jetzt ganz leise. »Vor
einigen Stunden war ich noch Arzt. Praktizierender Arzt. Name und Hausnummer,
Adresse im Telefonbuch. Ich habe den Eid geleistet, den Menschen zu helfen. Ich
habe ihnen auch geholfen. Viele kamen mit Beschwerden zu mir und gingen geheilt
wieder fort, denn ich verschrieb ihnen Arznei, sandte sie in die Klinik und
ordnete Operationen an. Dies alles ist nun für mich zu Ende. Ich kann fortan
niemandem mehr helfen. Diese Nacht aber gehört noch mir. In einigen Minuten
oder Stunden wird mir nichts mehr gehören. Es hängt wohl auch ein wenig von dir
ab. Jetzt könnte ich sogar sagen: ›Das Leben ist zu Ende!‹ Ich weiß aber nicht,
ob es tatsächlich zu Ende ist. Vielleicht werde ich auch morgen noch leben
wollen, auch ohne Anna. Das Leben ist sehr stark. Das weiß ich. Jetzt aber will
ich nur die Wahrheit erfahren. Ach, du selbst weißt ja am besten, wie schwierig
das ist ... die Wahrheit zu erfahren. Morgen beginnt all das, was mit dieser
von mir gesuchten Wahrheit nichts mehr zu tun hat.
    Sie fragen,
ich gebe Antwort. Die Welt fragt: Personaldaten. Annas Name, Alter, Religion.
Sowie: wann und weshalb? Sie verstehen es nicht. Zu Beginn werden die Fragen
von einem Beamten gestellt, dann vom Richter, später von den Sachverständigen
und den Kontrollsachverständigen. Morgen – weißt du – wird jedes Wort eine
andere Bedeutung haben.« Und da Christoph schweigt: »Wieviel Uhr ist es? Halb eins vorbei? Dann habe ich
noch Zeit. Diese Nacht muß

Weitere Kostenlose Bücher