Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
Vom Netzwerk:
»Rosegger-Stube« darstellt, die Sehenswürdigkeit der Stadt. Trude ist ein
»besseres Mädchen«, sie speist am Familientisch, übernimmt aber auch das
Waschen der Kinderkleidung. Die Generalin, Herthas Mutter, behauptet, Trude sei
hysterisch, weil sie sich ab und zu bei Vollmond mit »Visionen« beschäftigt
und den Kindern vom blauen Hirsch und den Menschen vom Meeresgrund erzählt.
»Visionen hat sie, die Jungfrau von Orléans!« sagt die Generalin verächtlich.
    Aber die
Kinder lieben Trude und ihr Märchen vom blauen Hirsch – in Trudes Märchen hat
jedes Tier eine Farbe; der Bär zum Beispiel ist »okkerrot«, man weiß nicht,
warum, und so lauschen und spinnen die Kinder verständnisvoll an Trudes
Visionen weiter.
    »Ein Herr? Jetzt? Was für ein Herr?«
fragt Christoph hastig. Ein fremder Herr nachts in der Wohnung? Sie reden
leise, sie lispeln vertraulich. »Ja«, sagt Trude, »ein Herr«, der Richter möge
entschuldigen. Sie verstehe es selbst nicht, aber sie mußte ihn hereinlassen.
Er kam gegen neun Uhr, die Kinder waren schon zu Bett, sie selbst wollte sich
eben die Haare waschen, als der Herr klingelte. Sie wollte ihn ohnehin nicht
sofort eintreten lassen, sie sagte gleich, daß der Herr Richter niemanden in
seiner Wohnung empfange. »Was ist ihm nur eingefallen?« fragt Christoph empört
und wirft Rock und Hut auf die altdeutsche Holztruhe. Diese Bewegung ist
heftig und willkürlich. Dann steht er unschlüssig mitten im Vorzimmer, doch
Trude redet mit geläufiger Zunge weiter, in dem gleichen Tonfall, in dem sie
auch ihre »Visionen« vorzutragen pflegt, und mit weit geöffneten Augen. Ein
Herr, jawohl, nicht jung und nicht alt, ungefähr im Alter des Herrn Richters,
oder nein – er sei wohl älter als der Herr Richter –, ja, viel älter sogar.
Doch allein sein Gesicht ist es, das so alt ist.
    Hertha tritt nun neben sie und packt
sie mit ihrer behandschuhten Hand kräftig am Arm. Diese Berührung bringt Trude
in die Gegenwart zurück. Sie senkt den Kopf, starrt einen Moment lang den
gestreiften Bauernteppich im Vorzimmer an und beantwortet dann langsam und
mechanisch Christophs Fragen wie jemand, den man seinen Träumen entrissen hat.
Ihre Stimme ist nun ganz teilnahmslos. Herthas Griff hat sie aus der »Vision«
auf die Erde versetzt. »Nun, wenn ihr an Träume nicht glauben wollt«, scheint
ihr gekränkter Blick zu sagen. Nur noch ein paar dieser hastig-vertraulichen,
fieberhaften Sätze, und Trude hätte vieles über den Herrn erzählen können. Sie
hätte ihnen seine Farbe mitgeteilt, die wahrscheinlich Grünblau ist, und daß
im Hof ein Känguruh den fremden Herrn erwartet. Hertha hält Trude fest am Arm,
und das Mädchen gibt nun mit gekränkter Sachlichkeit Bescheid. Ja, um neun Uhr
kam er. Sein Hut hänge dort auf dem Kleiderhaken. Tatsächlich – auf dem Haken
hängt ein weicher grauer Hut gleich einem Beweisstück. Zu dieser Stunde und in
dieser Wohnung wirkt der Gegenstand ergreifend und fremdartig zugleich.
»Nein«, sagt Trude, »der Herr war noch nie bei uns.« Es ist doch unerhört,
denkt Christoph – man kommt abends nach Hause, und ein fremder Herr ... Nun,
der Polizist steht schließlich unten an der Ecke. »Jetzt sitzt er drinnen im
grünen Zimmer«, sagt Trude mit hartnäckigem Farbensinn. Die Ehegatten hören das
Geplapper und blicken einander ratlos und etwas aufgeregt an.
    »Geh dort
hinein«, sagt Christoph, »durch das Kinderzimmer. Ich werde ...« Hertha versteht
sofort und nickt. Sie gehen noch miteinander bis zur Tür des »grünen Zimmers«,
es ist ein bescheidenes Wohnzimmer, und horchen. Sie vernehmen keinen Laut.
Die große Stille der vertrauten Stube, in der sich jetzt ein Fremdling
befindet, ist beinahe beklemmend. An der Schwelle der geschlossenen Tür
schimmert Licht. »Du wirst aber ruhig bleiben, wer immer es ist und was immer
er will«, flüstert Hertha. Christoph nickt, berührt ihren Arm und weist sie in
die Richtung des Kinderzimmers.
    Dann nimmt er eine gerade Haltung an
und drückt die Klinke nieder. Er tritt ins Zimmer, an der Tür aber bleibt er
stehen. Der Besucher steht beim Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt,
und starrt auf die dunkle Straße hinaus. Langsam wendet er sich um, kommt ruhig
und gelassen auf Christoph zu und bleibt im Schein der Lampe stehen. »Doktor
Greiner« – wie ein Blitz fährt diese Erkenntnis durch Christophs Bewußtsein –,
»Imre Greiner.« Sein Antlitz ist ihm so bekannt wie alles, was aus dem Mythos
der

Weitere Kostenlose Bücher