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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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»Christoph – hast du in den vergangenen neun Jahren nie von
Anna geträumt?«
    Der Richter
antwortet nicht. Mit weitgeöffneten Augen starrt er den Besucher verwundert
und bestürzt an.

13
    »Du hast Anna nicht gekannt«, sagt
der Arzt ein wenig überlegen. Er tritt zu den Bücherregalen, bleibt mit
verschränkten Armen stehen und lehnt den Kopf ein wenig nach hinten an die
dicken Bände des englischen Lexikons. »Du hast sie nur viermal gesprochen.« Er
zählt es an den Fingern ab: »Einmal auf dem Juristenball, da wurdest du ihr
vorgestellt. Du tanztest Quadrille mit ihr, jene zweite Quadrille. Es war im
Hungaria. Erinnerst du dich?« Christoph nickt unsicher und mit Vorbehalt.
»Nachher führtest du sie an die Bar des Hotels – ihr habt dort auf den hohen
Barstühlen gesessen und geplaudert. Du bist ungefähr eine halbe Stunde mit
ihr dort geblieben. Es war noch jemand dabei, ein Kavalier das Balles, ein
Advokat und Jugendverehrer Annas.
    Das
zweitemal in der Szivgasse. Es war an einem Vormittag Ende April, ein halbes
Jahr nach dem Ball. Anna kam von der englischen Sprachstunde, du gingst ins
Amt. Du sahst sie und hast sie nach Hause begleitet. Du sagtest noch, daß du
sie anrufen wolltest. Aber das hast du nie getan.
    Das drittemal habt ihr euch auf der
Insel getroffen. Ihr spieltet zu viert. Dann habt ihr euch alle auf den
Heimweg begeben, wandertet zu Fuß die Insel entlang. Ihre Freundin Irene war
mit dabei. Irene Szávozdy, die später von daheim fortlief und einen Tenor
heiratete – erinnerst du dich? Den Namen des Tenors habe ich vergessen. Auch
der Vater der Freundin ging mit euch, Paul Szávozdy, der Abgeordnete. Am
nächsten Tag fuhrst du nach Österreich und hast Anna nicht wieder gesehen. Doch
ja – ein einziges Mal noch, drei Jahre später. Damals war sie bereits meine
Frau. Auch du warst schon verheiratet. Ich war mit Anna in der Oper, wir
standen im Korridor, und plötzlich kamst du mit deiner Frau aus einer Loge. Im
Saal erklang noch die Musik. Erinnerst du dich?«
    Christoph
schaut ins Dunkel und schweigt. »Merkwürdig«, flüstert er dann heiser, »ja, unbedingt
... Eigentlich verliert sich ja die Erinnerung an solche ...
gesellschaftlichen Begegnungen. Doch jetzt, da du es erwähnst, erinnere ich
mich schon. Man spielte den ›Don Juan‹. Ja, ich erinnere mich!« – »Und an die
andere Begegnung in der Szivgasse? Und an die nächste, auf der Insel?«
    Christoph antwortet in hilfloser
Abwehr wie einer, den man verhört: »Auf der Insel, ja. Doch in der Szivgasse?
Vormittags?« Er stockt und hält verlegen inne. Er blickt den Arzt nicht an. Ja,
er erinnert sich auch an diese Begegnung. Es war eine unbedeutende, zufällige
Begegnung, wie sie täglich vorkommen kann. Sie redeten
damals befangen, machten Konversation. Vielleicht waren sie um eine Spur
vertraulicher ... Und jetzt erinnert er sich plötzlich an alles. Die Sonne
schien aus klarem Himmel. Es war Ende April, außerordentlich warmes und
strahlendes Wetter. Sie gingen in Richtung Ringstraße. Sie plauderten englisch
– das Mädchen kam tatsächlich von der Sprachstunde –, keiner von beiden konnte
die fremde Sprache gut genug, und so sprachen sie unbeholfen, es klang wohl ein
wenig komisch. Er hätte zu dieser Stunde bei Gericht zu tun gehabt, er hatte
sich bereits verspätet ... Anna zeigte ihm das Buch, das sie vormittags mit der
Lehrerin gelesen hatte: »Romeo und Julia« ... Christoph blickte auf die
Armbanduhr, es war schon sehr spät, er begleitete sie aber noch nach Hause und
zitierte in scherzhafter Verzweiflung Romeo: »... Let me be taken, let me be put to
death; I am content, so thou wilt have it so ...« Und Anna antwortete im selben Ton,
schulmädchenhaft, stolz und glücklich, die Stelle zu kennen: »O, now be gone;
more light and light it grows! ...«
    Ja, wahrhaftig – wie leuchtend und
hell jener Vormittag war! Es funkelte und strahlte, als wäre schon der Sommer
gekommen. Unter dem Tor blieben sie stehen und reichten einander die Hand. Nun
wäre es passend gewesen, etwas zu sagen, ein Wort, das sich dem Augenblick anschmiegt,
es brauchte wenig Sinn zu haben und konnte ohne tiefere Bedeutung sein – aber
es sollte ein
Wort sein, ähnlich dem schimmernden Tropfen eines Wasserfalls, der in der
Sonne glänzt und ... dann niederfällt und für immer verschwindet. Ja, er würde
sie anrufen! Er blickte dem Mädchen nach – nun aber war es wirklich höchste
Zeit, zum Gericht zu gehen.
    »O,
now be gone«, murmelt

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